Jillian Hunter
fütterte. Er durfte nicht wieder zunehmen und zu Kräften kommen.
„Liebe, liebe Chloe, du hast kaum einen Bissen gegessen", schalt ihre Tante mit einem dramatischen Seufzer. „Du musst die schrecklichen Neuigkeiten wohl bereits gehört haben. Das hat auch mir den Appetit geraubt."
Onkel Humphrey warf Chloe über die Zeitung hinweg ei- nen Blick zu und schüttelte leicht den Kopf. Vermutlich woll- te er sie beruhigen, dass die schrecklichen Neuigkeiten nichts mit Devon zu tun hatten.
„Welche Neuigkeiten?", fragte Chloe beiläufig, während sie ihre Serviette in winzige Quadrate faltete. In Chistlebury be- trachtete man vermutlich einen Kamin, der in Brand geriet, als weltbewegendes Ereignis.
Ihre Tante hielt inne, um sicherzugehen, dass alle Aufmerk- samkeit auf sie gerichtet war. „Der Geist von Stratfield hat in der vergangenen Nacht wieder zugeschlagen."
Chloe legte ihre misshandelte Serviette hin. Ihr Herz mach-
te einen Satz. „Ach?"
Tante Gwendolyn nickte. „Er hat ein weiteres unschuldiges Mädchen im Schlaf verführt."
Chloe sah, wie ihr Onkel die Augen zum Himmel drehte. „Verführt..."
„Gütiger Himmel, Gwennie", sagte Humphrey. „Erzähl ihr doch nicht so früh am Morgen solche Schauergeschichten." Tante Gwendolyn sah etwa drei Sekunden lang beleidigt aus, dann erzählte sie weiter. „Rebecca Plumley wurde letzte Nacht in ihrem Bett vom Geist von Stratfield heimgesucht", verkündete sie.
Chloe blinzelte. „Sag, dass das nicht wahr ist."
Ihre Tante nickte. „Es gab einen Zeugen bei der Tat."
„Eine verheiratete Frau von über vierzig Jahren ist wohl kaum ein unschuldiges Mädchen", murmelte Onkel Humphrey, in seine Zeitung vertieft. „Außerdem sieht Rebecca aus wie eine Vogelscheuche. Ich hätte gedacht, dass selbst ein Geist besseren Geschmack beweisen würde."
Pamela grinste Chloe über den Rand ihrer Teetasse hinweg an. „Ich frage mich, was ihr Ehemann davon hält."
„Verständlicherweise ist er tief beschämt", erklärte Tante Gwendolyn. „Er war sogar Zeuge dieser Tat."
Humphrey senkte verzweifelt seine Zeitung. „Willst du uns damit sagen, dass Oswald tatsächlich gesehen hat, wie dieser Geist mit seiner Frau intim war?"
„Nun." Gwendolyn machte noch einmal eine Pause. „Der Geist war allem Anschein nach unsichtbar, wie es übersinn- liche Wesen eben häufig sind. Aber Oswald hörte genau, wie Rebecca ,Oh, Stratfield, Stratfield! Hör bitte damit auf, du waghalsiger Teufel! Das kitzelt so!', rief. Und dann flog die Bettdecke in die Luft, nur zu eurer Information!"
Im Raum herrschte tiefes Schweigen. Durch den Türspalt sah Chloe, wie das Dienstmädchen auf dem Flur erstarrte, den Staubwedel bewegungslos über einer Büste von Sir Francis Drake, dem persönlichen Helden ihres Onkels, haltend.
Humphrey schüttelte verdrossen den Kopf. „Hör auf, die- sen hanebüchenen Unsinn zu verbreiten, Gwennie, hörst du? Stratfield war ein ehrenhafter Mann in den besten Jahren, als er hinterrücks ermordet wurde. Ich vermute, der arme Kerl
dreht sich bei dem bloßen Gedanken daran, Rebecca Plumley zu kitzeln, im Grabe um."
Von Schuldgefühlen gequält, schlug Chloe die Augen nie- der. Die Wunden des Viscounts waren wirklich übel. Mögli- cherweise würde er sie nicht überleben, und dann würde sein Tod auch auf ihrem Gewissen lasten. Der Mann benötigte dringend Medizin und Nahrung. Er hatte sie in eine überaus heikle Situation gebracht. Und sie dumme Gans hatte sich da- nach gesehnt, es möge etwas Aufregendes geschehen, um ihr Exil interessanter zu gestalten! Sie starrte auf den Dampf, der aus ihrer Teetasse aufstieg, als könnte der ihr eine Ant- wort geben. War es wirklich möglich, dass er den Schlüssel zu Brandons Tod kannte? Sie fragte sich, was ihre Brüder an ihrer Stelle getan hätten.
Nachdem sie alle junge Männer mit einem Hang zu wag- halsigem Benehmen waren, hätten sie sich sehr wahrschein- lich Stratfields Rachefeldzug angeschlossen. Für eine junge Frau kam das allerdings sehr wahrscheinlich nicht infrage. Was hätte ihre ältere Schwester Emma getan? Dem Viscount eine sanftere Art der Vergeltung gezeigt? Darauf bestanden, dass er anklopfte, bevor er in das Schlafzimmer einer Dame einbrach?
Sie faltete die Serviette in ihrem Schoß auf, um darin die Würstchen und den Toast aufzufangen, die sie beiläufig von ih- rem Teller gleiten ließ. „Hat irgendjemand eine Ahnung, wer ihn getötet haben könnte? Ich würde mir denken, dass die Be- hörden
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