Jillian Hunter
Lektion erteilen, weil er versucht hatte, Chloe zu verführen. Zwar hätte Dominic sie liebend gerne selbst verführt, aber jedem anderen Mann würde er dieses Privileg selbstverständlich untersagen. Vor allem nachdem sie sich ihm in jener Nacht hingegeben hatte. Sie gehörte nur ihm, und wenn er seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht hatte, würde er dafür sorgen, dass die ganze Welt das wusste. Dann würde er nie wieder gezwungen sein, sie zu verlassen. Er lächelte, als er sie durch das Teleskop betrachtete. Hinter den Spitzenvorhängen konnte er ihren Umriss erkennen. Ihre natürliche Anmut raubte ihm den Atem, und er fühlte sich zu- gleich schwach und kraftvoll. Er erinnerte sich wieder an ihre samtweiche Haut, ihr kehliges Stöhnen, als sie sich vereinigt hatten, ihren Duft, den verletzten Blick in ihren Augen, weil er sich dazu gezwungen hatte, den Raum zu verlassen.
Voller Bedauern senkte er das Teleskop. Zu einem anderen Zeitpunkt konnte er sich so lange quälen, wie er wollte. An diesem Abend jedoch erwartete ihn eine viel unangenehmere Aufgabe. Sir Edgar hatte in der letzten Zeit immer wieder spätabends die Gegend rund um das Anwesen erforscht, und Dominic fragte sich, warum.
Traf sein Onkel sich mit irgendjemandem? Oder hegte er den Verdacht, dass er beobachtet würde? War ihm bewusst, dass das Haus, das er als sein Erbe eingefordert hatte, tat- sächlich einen sehr umtriebigen Geist beherbergte? Vielleicht plante der Colonel sogar im Stillen seine Flucht. Er hatte in Indien Freunde und wertvolle Besitztümer; jahrelang konnte er dort bequem untertauchen.
Dominic überlegte, ob es besser war, ihn bei seinen nächtli- chen Ausflügen zu verfolgen oder die Gelegenheit zu nutzen, um während seiner Abwesenheit seine privaten Papiere zu durchsuchen. Falls sein Onkel inzwischen ahnte, dass er bei der Durchführung seiner Pläne nicht den erhofften Erfolg ge- habt hatte, würde er vielleicht sogar versuchen, Dominic er- neut in die Falle zu locken.
Aber vielleicht hatte Sir Edgar auch angefangen, an Geis- ter zu glauben.
Der Tag des Picknicks kam. Es war schönes Wetter, aber nicht besonders warm. Chloe zog ein himmelblaues Tageskleid aus Wolle an, dazu einen Paisleyschal mit Fransen und weiche Le- derstiefeletten. Ihre Augen unter dem Strohhut mit den Bän- dern wirkten nachdenklich. Sowohl ihre Ängste als auch ihre närrischen Hoffnungen waren erwacht, sobald sie erkannte, dass das Picknick nicht weit von der verlassenen Mühle statt- finden würde, zu der Dominic ging, wenn er seinem Kerker entfliehen wollte. Natürlich würde er nicht bei einem Pick- nick in der Öffentlichkeit erscheinen. Sie hatte kaum eine Chance, ihn heute zu sehen.
Trotzdem hoffte sie auf ein Zeichen von ihm, als sie und ihre Familie unter dem Blätterdach der Eichen und Buchen entlangfuhren. Die Hecken waren voller wilder weißer Rosen. Endlich lagen die Dorfkirche und die mit Stroh gedeckten Häuschen hinter ihnen, und nur das angenehme Geräusch
von Vogelgezwitscher wetteiferte noch mit dem Klappern der Kutschen und den angeregten Unterhaltungen. Zum ersten Mal wurde Chloe bewusst, dass sie London immer weniger vermisste, dass ihr eigenes, ungezügeltes Wesen begonnen hatte, in dieser Umgebung unverhoffte Wurzeln zu schlagen.
„Chloe", rief ihre Tante eindringlich, als sie über eine sta- bile Brücke zur Mühle fuhren, „halt die Augen offen, ja?"
Sie wandte sich um. „Aber ..."
Ihre Tante lächelte sie vielsagend an. Offensichtlich meinte sie, dass Chloe Ausschau nach einem gewissen lästigen Geist halten sollte. Als wäre Chloe nicht ohnehin schon von dem Ge- danken besessen, nach dem geringsten Lebenszeichen dieses Unholds zu suchen. Hatte er nicht erwähnt, dass es hier Tun- nels gab, dass unterirdische Gänge die Gegend durchzogen und versteckte Höhlen existierten, in denen früher Schmugg- ler ihre Beute versteckt hatten?
Vor Aufregung lief ihr ein Schauer den Rücken herunter. Versteckte er sich womöglich in den Tiefen der Erde unter ihr? Was für ein Gedanke, sich auszumalen, dass sie direkt über sein Versteck fuhr! Die Vorstellung, wie er in irgendei- nem unterirdischen Labyrinth saß und plante, seinen Feind zur Strecke zu bringen, faszinierte sie. Nein, korrigierte sie sich rasch, auch ihr Feind und der ihrer gesamten Familie - wenn es stimmte, dass Sir Edgar in Brandons Tod verwickelt war. Der Gedanke an Dominic in der Unterwelt beschwor selt- sam verführerische Bilder herauf. Von Hades und
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