Jimmy, Jimmy
Seit fast einem Jahr meide ich schon den Ort, wo Dads altes Leben zu Ende ging. Was nicht immer einfach ist, besonders wenn ich mit Jill oder sonst wem unterwegs bin und mir schon blöd vorkomme, wenn ich darauf bestehe, lieber einen langen Umweg zu machen. Ich komme mir vor wie ein Kind, das auf dem Heimweg von der Schule keine Ritze zwischen den Platten auf dem Bürgersteig berühren will. – Und jetzt gerade denke ich: Wozu das Ganze, wenn ich in meinen Träumen sowieso jede Nacht dort bin?
»Warum hat er uns das angetan, Martin?«, frage ich. »Ich meine, schlimm genug, dass er’s Sean und mir nicht gesagt hat. Aber warum nicht Mam? Ich dachte immer, sie wären sich so nah, so …«
»Denk daran, was für einen Start ins Leben er hatte, Eala«, sagt er. »Wie unsicher ihn der frühe Verlust seiner Eltern gemacht haben muss. Im Unterbewusstsein muss da immer die Angst geblieben sein, ausgerechnet von denen,die ihm am nächsten sind, im Stich gelassen zu werden. Und dann trifft er Judy und hat vielleicht Angst, sie zu verlieren, wenn er ihr von seinem Geheimnis erzählt.«
»Aber sie sind so viele Jahre zusammen, und er sagt trotzdem nichts? Es muss was richtig Schlimmes sein, das er uns verheimlicht hat. Das ist die einzige Erklärung.«
»Nein, da gibt es durchaus noch andere.«
»Nämlich?«
Martin wird wieder abweisend. Er lehnt sich weit nach vorn und macht wieder diese komischen Kreisbewegungen mit dem Kopf. Ich weiß nicht, ob es die Wut auf mich oder auf sich selbst ist, die ihn plötzlich nach einer Entschuldigung für Dads Verhalten suchen lässt.
»Wie wär’s damit: Jimmy hatte keine Familie, also ist er im Waisenhaus groß geworden, wo dir gar nichts anderes übrig bleibt, als eine Mauer um dich herum zu errichten, weil du sonst nicht überlebst. Darum sprichst du nicht über dich, nicht über deine Vergangenheit und nicht über deine Gefühle. Und dann lernt jemand wie Jimmy Judy kennen, und irgendwann sieht es aus, als wäre sie die Richtige, was es ihm noch schwerer macht, sich zu öffnen. Einfach weil er so viel zu verlieren hat. Dann heiraten sie, und Sean und du kommen zur Welt, und er hat noch mehr zu verlieren.«
»Wenn er Mam wirklich geliebt hätte, hätte er ihr vertraut, egal wie schlimm seine Geschichte war«, sage ich scharf.
Wir sind wieder dabei, uns ineinander zu verhaken.
»Er hat Judy geliebt, glaub mir, das weiß ich.«
Wie kannst du dir da so sicher sein, verdammt? , denke ich, aber ich halte mich zurück. Ich möchte Martin nicht auchnoch auf meine schwarze Liste setzen. Sie ist so schon lang genug. Wir fahren durch die Friary Street, und als wir das große Tor vor seinem Haus passieren, nutzt er die Chance, ein unverfängliches Thema anzuschlagen.
»Ich zieh hier aus, in eine der neuen Wohnungen, die ich draußen beim Golfplatz gebaut habe. Kann die Dinger dort sowieso nicht verkaufen bei der bescheuerten Rezession.«
»Aber warum denn?«, frage ich ehrlich überrascht. »Dein Haus ist doch toll.«
»Zu viele Erinnerungen. Ich hätte auf Jimmy hören sollen.«
»Er hat gesagt, dass du ausziehen sollst? Wann?«
»Schon gleich nachdem Kathleen gegangen war«, sagt er und lächelt. »›Wuthering Heights‹ hat er das Haus genannt. ›Und du bist kein Heathcliff‹, hat er gesagt. Er konnte schon Dinger raushauen, nicht wahr?«
»Kann man wohl sagen.«
»Und er hatte so was von recht. Ich hatte den Entschluss, aus dem Haus auszuziehen, kaum gefasst, da hat sich schon alles anders angefühlt. Hab ich mich anders gefühlt. Erst konnte ich mir gar nicht erklären, warum, aber dann kam ich drauf: Angie war weg. Ich hatte sie endlich gehen lassen. – Wir hätten damals nie in dem Haus bleiben dürfen.«
Mir kommt ein merkwürdiger Gedanke. Martin hat Angie gehen lassen – und sie ist zu mir gekommen. Der hell erleuchtete Town Square huscht vorüber, und wenig später sehe ich, dass Mrs Caseys Laden offenbar früher geschlossen hat als üblich. Dann erreichen wir die Unfallstelle, und ich sitze aufrecht, wie erstarrt, die Hand am Haltegriff der Beifahrertür, als würde gleich sonst was passieren. Aber espassiert nichts. Es ist, als wäre hier noch nie etwas passiert, das irgendeinen vorüberkommenden Autofahrer oder Passanten interessieren könnte.
»Denkst du, Mam und Dad werden sich trennen?«, frage ich.
»Judy tut alles für deinen Dad«, sagt er.
Ich warte, aber mehr kommt nicht von ihm.
Nur von Angie: Das kleine Waisenmädchen Eala und ihr Sugardaddy.
Weitere Kostenlose Bücher