Jinx - der verfluchte Liebeszauber

versuchte ich sie zu beschwichtigen. »Das ist doch Quatsch. Ich hab ihm nicht …«
    »Doch, Jinx. Doch, das hast du. Zack hat es auch gesagt. Wenn du ihn nicht zur Seite gestoßen hättest, wäre der Kurier frontal in ihn reingefahren und er wäre Matsch gewesen.«
    Auf einmal tat mir mein Magen viel schlimmer weh als die Beule über meinem Auge.
    »Du musst den Tatsachen ins Gesicht sehen, Jinx. Du hast die Gabe .«
    Mir wurde plötzlich ganz kalt. »Die … was?«
    »Die Gabe«, wiederholte Tory geduldig. »Hat Grandma dir etwa nie von Branwen erzählt?«
    Ich stieß ein nervöses Lachen aus. Was hätte ich auch sonst tun sollen?
    »Du meinst diese Geschichte mit unserer Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter?« , sagte ich. »Ach komm, Tory. Jetzt sag mir bitte nicht, dass du diesen Blödsinn glaubst. Das ist doch bloß so ein verrücktes Ammenmärchen, das Grandma ihren Bridgefreundinnen in Florida erzählt, wenn sie sich langweilen …«
    »Das ist kein Blödsinn«, sagte Tory aufgebracht. »Und es ist auch kein verrücktes Ammenmärchen. Unsere
Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter Branwen lebte in Wales und war eine Hexe. Vor ihrem Tod hat sie eine Prophezeiung ausgesprochen, die danach in der Familie von Tochter zu Tochter weitergegeben wurde. Und zwar hat sie gesagt, dass die jeweils älteste Tochter der Töchter unserer Familie die Gabe erben würde. Die Gabe der Zauberkraft. Aber anscheinend überspringt die Gabe manchmal eine oder mehrere Generationen, so wie du Grandmas rote Haare geerbt hast und unsere Mütter nicht.«
    Ich fasste mir automatisch an den Kopf, wie ich es immer tue, wenn jemand meine Haare erwähnt.
    »Tory«, stammelte ich. »Ich … Ich glaube nicht …«
    »Verstehst du denn nicht? Branwen hat von uns gesprochen. Wir sind die ältesten Töchter der Töchter unserer Großmutter. Wir sind die nächste Hexengeneration in unserer Familie.«
    Ich holte tief Luft. Der Knoten in meinem Magen war mittlerweile zur Größe einer Bowlingkugel angeschwollen.
    »Sei mir bitte nicht böse, Tory«, sagte ich, »aber ich hab das Gefühl, dass du ein bisschen zu viel ›Charmed‹ geschaut hast. Entweder das oder es sind noch die Nachwirkungen von dem Joint vorhin.«
    Tory seufzte. »Ich muss es dir wohl erst beweisen, was?«
    Ich sah sie besorgt an. »Wie willst du das machen?«
    »Mach dir nicht gleich ins Hemd«, sagte sie lachend. »Ich lass dich schon nicht auf deiner Matratze durch
den Raum schweben.« Sie rutschte entschlossen vom Bett und ging zur Tür. »Wenn du das denkst, hast du völlig falsche Vorstellungen.« Mit diesen Worten öffnete sie die Tür und ging in den Flur hinaus.
    Na toll. Meine Cousine Tory hielt sich also für eine Hexe. Das war wieder mal echt typisch für mein Pech.
    Um die Wartezeit zu verkürzen, griff ich nach dem Handspiegel und inspizierte den blauen oder besser gesagt violetten Fleck über meinem Auge, der immer größer wurde. Mittlerweile war ich mir ganz sicher, dass er auf gar keinen Fall bis Montag verschwunden sein würde  – meinem ersten Tag an der Chapman School, einer noblen Privatschule in Manhattan. Wenn ich daran dachte, wurde mir kotzübel.
    Aber ich tröstete mich damit, dass ich noch nie eine Schönheitskönigin gewesen war. Wie hatte Torys Freund Shawn mich genannt? Ach ja, Rotkäppchen und Rotfuchs . Tja, am Montag würde ich sicher noch ein paar weitere originelle Spitznamen verpasst bekommen. Und schon jetzt war klar, dass ich für Torys Freunde bis ans Ende meiner Tage Cousine Jean aus Iowa bleiben würde.
    Wobei das wahrscheinlich immer noch besser war als Jinx .
    Kurz darauf kehrte Tory mit einem Schuhkarton in den Händen in mein Zimmer zurück. Sie schloss sorgfältig die Tür hinter sich und kam zum Bett. Irgendetwas an der Art, wie sie die Schachtel hielt  – so als wäre etwas unendlich Kostbares darin  –, ließ die Bowlingkugel
in meinem Magen zu noch Größerem anschwellen. Einem Basketball.
    »Wenn du den Deckel von der Schachtel nimmst«, warnte ich sie, »und mir irgendwas Ekliges entgegenspringt, dann bring ich dich um.«
    »Jetzt sei nicht bescheuert«, schnaubte Tory. »Dir wird nichts entgegenspringen.« Sie setzte sich auf die Bettkante und hob vorsichtig den Deckel an. Ich beugte mich instinktiv vor und versuchte zu erkennen, was inmitten des zusammengeknüllten weißen Seidenpapiers lag. Dabei war ich mir gar nicht sicher, ob ich es überhaupt sehen wollte.
    Und dann griff Tory in die Schachtel und zog …
    … eine Stoffpuppe