Joanna Bourne
hat uns von Anfang an nach dem Leben getrachtet.«
Doyle schüttelte bereits den Kopf. »Das sieht nicht nach ihr aus. Gott sei Dank hat Vauban sie ausgebildet. Das in Brügge war das blutige Werk eines Stümpers. Vauban hätte auf jeden Fall die Finger davon gelassen.«
»Blutig ja, Stümper nein«, widersprach Grey. »Drei identische saubere Wunden. Wie viele Leute können schon so werfen? Und sie war dort.«
»Sieht nicht nach ihr aus. Hawker?«
»Ist nicht ihr Stil.« Adrian nahm einen Schluck gepanschten Weins und verzog das Gesicht. »Wir haben alle unseren Ruf in diesem ›Spiel‹ – du, ich, Doyle, wir alle. Annique Villiers geht unbekümmert, klug und im Verborgenen vor. Reinschleichen, rausschleichen … man merkt gar nicht, dass sie da war. Wenn sie jemanden umgebracht hat, dann ohne mein Wissen.«
»Das heißt doch nur, dass sie schlau genug ist, um sich nicht schnappen zu lassen.« Grey stocherte noch einmal im Feuer herum und erhob sich. »Leblanc sagt, dass Vauban die Albion-Pläne hat.«
Adrian schnaubte. »Leblanc ist ein Idiot.«
»Eine wohlbekannte Tatsache.« Doyle rieb sich die Stoppeln an seinem Kinn. »Aber Vauban und Verrat? Dieser unbestechliche alte Revolutionär? Das kann ich nicht glauben. Kann man ihm leicht nachsagen, jetzt wo er tot ist, aber – «
»Vauban ist tot?« Adrian machte eine unvorsichtige Bewegung, zuckte zusammen und legte die Hand auf den Verband.
»Ach, das wusstest du noch gar nicht? Spricht sich wohl nur langsam rum. Er starb im Schlaf. Ähm … Ist, glaube ich, sechs Wochen her. Er war noch vom alten Schlag. Seinesgleichen findet man nicht mehr.« Doyle ließ die Serviette aufs Tablett fallen. »Eins kann ich trotzdem sagen – Vauban würde sich eher die Eier abschneiden lassen, als französische Geheimnisse zu verkaufen. Das Mädchen war schon bei ihm, als sie noch in die Windeln gemacht hat. Sie ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie er.«
Annique steckte bis über ihre beiden hübschen Ohren in dieser Sache. Anders als Doyle und Adrian konnte Grey das erkennen. Ganz sicher wissen würde er es erst, wenn er sie in der Meeks Street hinter Gitter gebracht hätte. Dann fände er schon heraus, wo sie die Albion-Pläne versteckt hielt. Man gebe ihm fünf Wochen und er wüsste, welche Farbe die Wände in ihrem Schlafzimmer hatten, als sie sieben war. »Brauchst du mich noch? Adrian?«
»Ich komme schon klar. Du irrst dich wirklich, was sie angeht.«
»Das finde ich schon noch heraus. Ich werde etwas essen und mich waschen und es ihr dann gemütlich machen.« Seine Stimme hatte er zwar unter Kontrolle, doch als er die Tür öffnete, klapperte der Schnappriegel ziemlich laut.
Verdammt, wenn er sich nun wieder mit ihr bekriegen musste oder sie diesmal die Hure spielte und ihre reizenden Schenkel für ihn öffnete. Vielleicht würde er ihr Angebot annehmen. Sie könnten einander umschlingen und zur Abwechslung mal auf diese Weise rangeln. Er würde sie benutzen, zur Seite rollen und sie vergessen. Ihre Magie wäre dahin, wenn sie erst verklebt und schweißgebadet unter ihm läge. Sie wäre nur ein weiterer warmer, williger Körper.
Wie verdammt unprofessionell, so über eine Gefangene zu denken. »Und sie vielleicht einfach nur ans Bett fesseln.« Er schaute sich nicht um.
Doyle wollte etwas sagen: »Robert … «
Adrian unterbrach ihn leise: »Lass ihn. Das ist eine Sache zwischen den beiden.«
5
»Ganz schön dunkel hier.« Greys Stimme klang rau wie Sandpapier und samtweich zugleich. Er sprach in diesem freundlichen Ton, mit dem man engsten Freunden, Kindern, Tieren oder Bediensteten begegnete … oder Prostituierten.
»Zündet eine Kerze an, wenn Ihr wollt. Für mich macht das keinen Unterschied.« Ihr Ton entsprach dem einer Gefangenen gegenüber ihrem Entführer, der ein ausländischer Spion war.
»Ich dachte, Doyle hätte Euch gebeten, das Nachthemd anzuziehen.«
»Das hat er auch. Ich werde es Euch sofort wissen lassen, wenn ich Befehle von Monsieur Doyle entgegennehme.« Sie stand mit dem Rücken zu ihm, nestelte an dem Nachthemd herum und machte keine Anstalten, sich umzudrehen. Die vor ihnen liegende Nacht würde unendlich schwierig werden.
Von den Feldern trug der Wind den Geruch nach Kühen, Erde und Äpfeln herüber. Sie spürte ein schon fast schmerzhaftes Verlangen danach, diese Felder und den Sternenhimmel zu sehen. In all den Monaten war sie nie verflogen, diese Sehnsucht.
Das Hemd an ihrem Körper blähte sich im Wind, schmiegte
Weitere Kostenlose Bücher