Joanna Bourne
jagte dem Gemüse auf dem Boden der Schüssel hinterher, »… mit den unmöglichsten Dingen töten, die im Haus herumliegen.«
»Wahrscheinlich ist sie gerade jetzt dabei, sich aus irgendwas eine scharfe Klinge zu basteln.« Doyle kratzte sich an der Narbe auf seiner Wange. Sie sah täuschend echt aus; trug er sie aber längere Zeit, fing sie an zu jucken. »Sie stellt eine Gefahr dar, auch wenn man sie nur kurz allein lässt. Ich möchte, dass das Mädchen für uns arbeitet.«
»Wünsch dir das lieber nicht.« Grey durchquerte den Raum, hockte sich vor den Kamin und legte ein dünnes Scheit aus Buchenholz ins Feuer. Sie würden noch mehr Holz hier oben brauchen, denn sobald das Fieber zurückkam, würde Adrian anfangen zu frieren. Die Flammen reizten ihn mit flackernden, schlängelnden Bildern. In den tanzenden Feuerzungen erschienen ihm ein Dutzend Anniques, die geschmeidig, vor Schweiß glänzend und nach Öl duftend, ihre Zigeunertänze vorführten. »Sie war in Brügge.«
Er spürte, wie die Stimmung im Zimmer umschlug.
»Brügge«, wiederholte Doyle.
»Ich war auf dem Marktplatz, im Café beim Turm, und wartete auf jemanden. Auf der anderen Seite des Platzes war ein halbwüchsiger Zigeunerjunge und jonglierte. Er lachte, während er vier oder fünf Messer durch die Luft sausen ließ. Er hatte die ganze Zeit Spaß.«
»Annique«, bemerkte Doyle.
»Annique.«
»Ich habe gehört, dass sie einen recht überzeugenden Jungen abgibt.«
»Ich wusste nicht, dass der Zigeunerjunge eine Frau war, ehe ich sie bei Leblanc sah.«
Er hatte sich an einer Tasse Kaffee festgehalten, dort auf dem Marktplatz in Brügge, hatte sich ein Stück weit in diese ausgelassene Freude ziehen und die Anspannung durchbrechen lassen, die mit seiner Wachsamkeit einherging. Später hatte er sich daran erinnert, wie froh er über den Anblick des Jungen gewesen war. »Es sah kinderleicht aus, wenn er seine Messer warf und kleine Ziele genau ins Schwarze traf. Seine Mütze war recht ordentlich mit Münzen gefüllt, als er dann weiterzog.«
»Sie kann gut mit Messern umgehen. Zwar nicht so wie Hawker, aber ziemlich gut.«
»Niemand ist so gut wie ich«, erklärte Adrian.
In einer Kiste neben dem Kamin lagen Kiefernzapfen. Grey legte ein paar ins Feuer und schob mit den Fingern die Scheite umher, um es vorsichtig in Gang zu bringen. »Eine Stunde später kam Fletch und erzählte mir, dass man ihnen aufgelauert hatte und das Gold weg wäre. McGill, Wainwright und Tenns Bruder waren tot.«
Adrian stellte seine Schale auf den Tisch. »Ich habe zusammen mit Wainwright in Paris gearbeitet.«
»Tenns Bruder war wie mein eigener«, sagte Doyle. »Das war sein zweiter Auftrag. Stephen Tennant. Ging mir sehr nahe, als ich es erfuhr.« Er angelte mit dem Daumen nach der Schale des Jungen, kippte sie leicht und sah hinein. »Isst du den Rest noch auf?«
»Nein.«
»Trink ruhig den Wein.« Doyle stellte die Schale auf die Untertasse. »Man ging von einem unkomplizierten Austausch aus: Albion-Pläne gegen Gold.«
Die Albion-Pläne enthielten die taktischen Einzelheiten für Napoleons Invasion Englands: die umfangreichen Berechnungen der Truppenstärke, Verpflegung, Schiffe, Routen, Zeitpläne; das Datum der Invasion; die Landepunkte und inländischen Routen; das Alternativdatum im Falle ungünstigen Wetters.
Mithilfe der Pläne könnten die Engländer die Invasoren zurückschlagen. Oder die einlaufende französische Flotte aus dem Hinterhalt überfallen und vom Wasser fegen. Die Pläne enthielten wertvolle Informationen über Frankreich: die Stärke jedes einzelnen Schiffes, die Soldaten jeder einzelnen Kompanie, die Produkte jeder einzelnen Fabrik. Die Pläne konnten das Gleichgewicht der Kräfte verändern.
Sechsunddreißig vollständige Abschriften waren angefertigt worden. Eine davon, so ging das Gerücht, wäre verloren gegangen. Als ihnen diese angeboten wurde, hätte er den Braten sofort riechen müssen. Der geforderte Preis betrug eine Handvoll Gold. Ein Nichts. Er hätte das Hundertfache dafür bezahlt.
Er hatte sich auf die Chance gestürzt, die Pläne zu kaufen, und damit seine Leute in die Falle und in den Tod geführt. Sein Fehler. Seine Verantwortung. »Sie war in Brügge. Seit sechs Monaten suche ich nach diesem Zigeuner.«
Doyle sagte: »Du glaubst, sie war’s? Weil Messer im Spiel waren?«
»Sie sind durch einen einzigen, gezielten Treffer in den Nacken gestorben. Würfe eines Könners aus dem Hinterhalt. Die Französin
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