Jodeln und Juwelen
Genauso gut konnte
sie einfach hier liegen bleiben und ihre Gedanken treiben lassen. Wen störte es
schon, wenn sie für ein paar Minuten ins Schlummerland abdrifteten?1
Emma war sich vage bewusst, dass sie
einen faszinierenden Traum hatte. Sie befand sich in einem fremden Flaus auf
einer kleinen Insel und ruhte auf einer altmodischen grünen Chaiselongue aus
Weidengeflecht mit ausgeblichenem lila Chintzbezug. Durch die Fenster neben
sich konnte sie einen Pier sehen, der sich bis ins Meer erstreckte. Am Ende
dieses Piers stand ein Pirat. Sie wusste genau, dass es ein Pirat war, denn er
trug hautenge schwarze Hosen und Stiefel, einen breiten Gürtel, wahrscheinlich
für seine Pistolen und Messer, und hatte ein rotes Tuch um den Kopf gebunden.
Emma hätte statt Kopftuch lieber einen
Zweispitz mit einem Totenschädel und gekreuzten Knochen auf der hochgebogenen Krempe
gesehen, doch leider konnte man seine Träume nicht immer genau so gestalten wie
es einem gefiel. Aber wenigstens hatte er einen dichten schwarzen Bart, genau
wie der abscheuliche Mann, den sie auf der Fähre getroffen hatte. Da keine
brennenden Kerzen darin steckten, konnte er kaum der berühmte Blackbeard sein.
Oder hieß er Blaubart? Nein, Blaubart war der Mensch, der ständig seine Frauen
umgebracht hatte. Meine Güte, was für ein verrückter Traum. Sie konnte sogar
das Salzwasser riechen und die Glätte des Chintzstoffes spüren. Jetzt fühlte
sie sogar, wie sie sich aufsetzte.
Emma saß tatsächlich aufrecht und
befand sich mitnichten in einem Traum. Der Pirat war verschwunden, hatte sich
einfach vom Pier aus ins Wasser gleiten lassen, und sie wünschte, er fröre sich
seinen — nein, Emma war eine anständige Frau, die derartige Wünsche nicht
einmal zu denken wagte. Der vermeintliche Blackbeard war natürlich dieser
lächerliche Everard Wont gewesen, der seinen Auftritt als Piratengeist probte,
um eine alte Dame, die sich über sein albernes Buch lustig gemacht hatte, damit
zu Tode zu erschrecken.
Emma riss sich zusammen. Vielleicht
hatte Wont nur für eine Skizze posiert, damit Mr. Groot schon mit der
Illustration anfangen konnte. Ein Motiv, das durchaus verständlich und sogar
lobenswert war. Man durfte sich von persönlichen Vorurteilen nicht zu
voreiligen Schlüssen hinreißen lassen. Die Tatsache, dass Wont sich von den
Brüdern des Geselligen Kabeljaus hatte hereinlegen lassen, bedeutete noch lange
nicht, dass er ein Dummkopf oder Schurke war.
Oder vielleicht doch? Emma begab sich
ins Badezimmer und ließ heißes Wasser für ein Bad ein. Sie schloss die Tür
hinter sich ab, damit die kleine Sandy nicht plötzlich hereingeschneit kam und
sich erbot, ihr den Rücken zu schrubben. Wie hatte es der verstorbene Ralph
Bergengren noch so treffend ausgedrückt? »Dinieren kann man mit der Welt, aber
baden sollte man allein.«
Emma genoss ihr Bad, machte sich
zurecht und schlüpfte in einen ihrer langen Samtröcke. Er hatte einen
ungewöhnlichen matten Altrosaton, der an die getrockneten Blüten erinnerte, die
man so oft in Potpourri-Schalen sah. Die Farbe harmonierte hervorragend mit der
gedämpften Atmosphäre des langsamen Verfalls, den das Haus der Sabines
ausstrahlte.
Dazu passte eine ihrer bestickten
Seidenblusen, ebenfalls in Altrosa, aber nicht zu grell. Emma liebte dezente,
zarte Farben. Alles Tarnung, behauptete Fred Kelling, wie die Streifen eines
bengalischen Tigers. Fred war ein komischer alter Kauz, dachte sie liebevoll.
Siebzig Jahre lang hatte er den unerreichbaren Junggesellen gespielt und war
dann urplötzlich mit Jenicot Tippletons attraktiver Mutter durchgebrannt, weil
er der Meinung war, dass Jack Tippleton sie nicht verdiene. Womit er durchaus
Recht hatte. Jack wehrte sich nach wie vor gegen die Scheidung, daher lebten
Fred und Martha einfach so zusammen. Emmas Segen hatten sie. Emma warf einen
letzten Blick in den Spiegel mit dem geflochtenen Weidenrahmen, war mit ihrem
Spiegelbild zufrieden und steckte sich ihre Perlenohrringe an. Heute Abend
hatte sie keine Lust, die kunstvollen Spielereien ihrer Enkelin zu tragen.
Der Schal aus feinem Musselin mit den
riesigen Pfingstrosenblüten, ebenfalls in gedämpften Rosa- und Rottönen,
verlieh ihrem Aufzug den nötigen Boheme-Touch. Die Zimmer im unteren Stockwerk
waren bestimmt kühl und zugig, wenn die Sonne untergegangen war. Doch jetzt
sollte sie endlich aufhören herumzutrödeln und sich nach unten begeben, um noch
in Ruhe mit Vincent reden zu können, bevor die Gäste
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