Joe Golem und die versunkene Stadt
ein schiefes Grinsen und funkelnde Augen unter einem Schopf aus kupferrotem Haar. Er schwört sich, dass dieses Mädchen nicht von der Hand der Hexen sterben wird.
Niemals , sagt er. Das Geräusch ist unter Wasser ein sanftes Rumpeln in seinen Ohren. Keine Kinder mehr.
Die Gleise unter seinen Füßen biegen leicht nach links ab. Er folgt ihnen, doch als er um die Ecke kommt, spürt er vor sich im Wasser eine Störung, den Druck von irgendetwas Gewaltigem, das durch den dunklen Fluss auf ihn zukommt. Nein, sie sind zu zweit, zwei riesige Kinder eines Leviathans, die sich ihm durch den Tunnel nähern. Es sind Ungeheuer, die die Hexen ihm entgegenschicken.
Im schwachen Licht, das von Lampen im Tunneldach stammt, sieht er nur Dunkelheit und das Blitzen von tausend Zähnen.
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Kapitel 20
A ls Molly wieder zu sich kam, leuchteten die Lampen im großen Saal von Dr. Cocteaus Behausung nur schwach, aber die Decke war wieder ganz normal. Was immer der alte Mann mit ihren Augen angestellt hatte, mit ihrer Wahrnehmung, es wirkte nicht mehr. Molly lag auf einer glatten, harten Fläche. Ihr Kopf war auf die Seite gedreht, und an der Wange spürte sie das kalte Material. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie begriff, wo sie sich befand. Angst durchraste sie, und sie setzte sich kerzengerade auf. Sie war auf einem von Cocteaus Operationstischen. Fröstelnd schlang sie die Arme um die Schultern und versuchte, die Kälte wegzureiben. Sie war froh, dass man sie wenigstens nicht festgeschnallt hatte.
»Wenn Sie Ihre Antworten möchten, müssen Sie jetzt sehr genau zuhören«, sagte Dr. Cocteau.
Molly fuhr herum und sah, dass er die ganze Zeit am Kopfende des Tisches im Dunkeln gestanden hatte, direkt hinter ihr; vielleicht hatte er sie beobachtet, während sie besinnungslos dalag. Der Schleicher war in Cocteaus Arme geklettert; der Verrückte hielt das Geschöpf wie ein Kind. Das feuchte, klebrige Atmen der Kreatur klang abscheulicherdenn je. Der Anblick der beiden, wie Vater und Sohn, ließ Molly schaudern.
»Sie haben es gespürt«, sagte Dr. Cocteau.
»In den Sternen«, wisperte Molly. Sie zog die Knie ans Kinn und umschlang sie mit den Armen. Im Raum hatten sich neue Schatten gesammelt, nachdem das Licht schwächer gestellt worden war, und irgendwo dort lauerten die Gas-Männer.
»Nein«, widersprach Cocteau in scharfem Tonfall. »Nicht in den Sternen. Zwischen den Sternen. Jenseits von allem, was Ihre Augen sehen können.«
Molly nickte. »Mr. Church nannte es den ›undimensionalen Raum‹.«
»Genau!«, erwiderte Cocteau, und seine Augen funkelten. Er umarmte den Schleicher und drückte mit seiner Nase auf dessen Gasmaske. »Das ist genau richtig. Aber sie haben nicht immer in diesem Raum gelebt. Diese alten Götter lebten auf der Erde einer Frühzeit, in ihrer ersten, verborgenen Inkarnation, die die Wissenschaft nie begreifen wird. Die Alten empfanden die sich verfestigende Welt als einengend und verließen sie, entglitten in eine andere Realität, die unendlich weitläufiger war.«
Zutiefst entnervt blickte Molly zu den Vorhängen, hinter denen das Becken wartete, und wünschte sich, sie käme an die Pressluftflaschen heran. Sie überlegte, zur Wendeltreppe zu fliehen, die die Gas-Männer sie hinaufgeführt hatten, doch selbst wenn diese Treppe bis an die Oberfläche reichte – sie käme niemals so weit, ohne dass Cocteau und seine Schergen sie vorher einholten.
Cocteau drückte den Schleicher noch einmal an sich, ehe er ihn absetzte. Dann kam er näher und hockte sich auf die Kante des Operationstisches.
»Helfen Sie Felix«, bat Molly.
Cocteau runzelte gereizt die Stirn. »Nur still, Mädchen, und ich helfe ihm.«
Sie nickte, damit er fortfuhr.
»Ich bin ein Seher«, sagte Cocteau. »Ein Wahrsager, ein Prognostiker. Ich würde sogar so weit gehen, mir insofern zu schmeicheln, als dass ich mich einen Propheten nenne. Ich werfe die Runen, mein Kind. Ich lese aus den Sternen. Ich suche nach Zeichen im Satz meiner Teetasse oder in den Eingeweiden der Ratten, die wir in den Tunneln töten. Der Einfluss der alten Götter, die in jenem eigentümlichen Reich leben, wirkt auf unsere Welt auf Wegen, die man unmöglich begreifen kann, sofern man nicht nach solchen Omina Ausschau hält. Einige Leute haben gesagt, über diesem Jahrhundert liege ein Fluch, und die Seuchen und Kriege und Erdverwerfungen seien von diesem Fluch verursacht. Diese Leute sind Narren.
Viele Jahre schon deuten sämtliche Zeichen auf das
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