Joe Kurtz 01 - Eiskalt erwischt
aus. »Toleranz und Vielfalt. Kein Wort vom Kanon, von den Klassikern, von Wissen und Bildung. Nur Vielfalt und Toleranz – und Toleranz und Vielfalt. Das ebnet den Weg zum globalen E-Commerce und persönlicher sozialer Kompetenz.« Seine wässrigen Augen richteten sich im trüben Licht auf Kurtz. »Ja, Joseph, Doo-Rag und seine Kumpel auf der Straße würden durchaus Anweisungen von einem ehemaligen Crip annehmen, solange dabei ausreichend Geld für sie herausspringt. Danach würden sie versuchen, den Arsch plattzumachen. Von welchem früheren Crip reden wir denn?«
»Malcolm Kibunte.«
Pruno verzog das Gesicht, dann wurde er wieder von einem heftigen Zitteranfall gepackt. »Ich habe nicht mal gewusst, dass Malcolm Kibunte mal bei den Crips war.«
»Weißt du von irgendwelchen Abkommen zwischen diesem Kibunte oder Doo-Rag und den Farinos?«
Pruno hustete erneut. »Scheint mir nicht sonderlich wahrscheinlich, weil die Farinos genau wie alle anderen Mafiosi absolute Rassisten sind. Um es ganz deutlich zu sagen, Joseph: nein. «
»Weißt du, wo ich Kibunte finden kann?«
»Leider auch das nicht. Aber ich erkundige mich gerne für dich.«
»Mach das aber nicht zu offensichtlich, Pruno.«
»Keine Sorge, Joseph.«
»Eine Frage noch. Weißt du irgendwas über einen weißen Typen, mit dem Malcolm sich rumtreibt?«
»Cutter?« Prunos Stimme zitterte, entweder vor Kälte oder aufgrund von Entzugserscheinungen.
»Heißt der so?«
»Das ist der Straßenname, unter dem die Leute ihn kennen, Joseph. Sonst weiß ich nichts über ihn und lege auch keinen gesteigerten Wert darauf. Das ist eine extrem gestörte Person, Joseph. Bitte halte dich von ihm fern.«
Kurtz nickte. »Du musst zu einem Asyl gehen und dir wenigstens eine vernünftige Decke besorgen, Pruno. Und etwas zu essen. Verbring Zeit unter Menschen. Fühlst du dich nie einsam hier draußen?«
»Numquam se minus otiosum esse, quam cum otiosus, nec minus solum, quam cum solus esset«, zitierte der Junkie. »Bist du mit Seneca vertraut, Joseph? Ich hatte ihn auf deine Leseliste gesetzt.«
»So weit bin ich wohl nicht gekommen, fürchte ich. Seneca der Indianerhäuptling?«
»Nein, Joseph, obwohl der auch sehr wortgewandt war – vor allem, nachdem wir Weißen ihm ein ›Geschenk‹ unterbreitet haben, das aus Decken bestand, die mit Pockenviren verseucht waren. Nein, Seneca der Philosoph ...« Prunos Augen wurden trübe und verloren sich in Erinnerungen.
»Möchtest du mir das übersetzen?«, fragte Kurtz. »So wie früher?«
Pruno lächelte: » Er sei niemals weniger untätig gewesen, als wenn er frei von Tätigkeit, und niemals weniger einsam, als wenn er einsam sei. Seneca hat diese Worte Scipio Africanus zugeschrieben, Joseph.«
Kurtz zog die Lederjacke aus und legte sie Pruno in den Schoß.
»Das kann ich nicht annehmen, Joseph.«
»Es war ein Geschenk«, sagte Kurtz. »Ich habe sie vor noch nicht einmal einer Stunde bekommen. Ich habe einen ganzen Schrank voll mit diesen Dingern zu Hause.«
»Blödsinn, Joseph. Das ist absoluter Blödsinn.«
Kurtz tätschelte dem alten Mann die knochige Schulter, dann rutschte er wieder die Böschung hinunter. Er wollte zurück im Kühlhaus sein, bevor es richtig hell wurde.
KAPITEL 18
Das alte, sechsgeschossige Backsteinhaus war ursprünglich als Eisfabrik konzipiert worden, diente dann den größten Teil des 20. Jahrhunderts als Lagerhaus, spielte ein paar Jahrzehnte lang kräftig Geld ein, weil ein cleverer Kopf die riesigen Hallen in ein Labyrinth aus Käfigen und fensterlosen Zellen verwandelte und die Parzellen auf Monatsbasis vermietete. Vor Kurzem war das Gebäude dann von einem Konsortium mehrerer Rechtsanwälte übernommen worden, die sich dumm und dämlich damit verdienen wollten, indem sie die Fläche zu teuren Apartments für Besserverdiener mit Ausblick auf die Stadt und im Inneren mit Zwischengeschossen und einem schicken Atrium umbauen ließen.
Der Architekt hatte sich das Bradbury Building in Los Angeles, das immer wieder für Innenaufnahmen bekannter Hollywood-Filme zum Einsatz kommt, als Vorlage genommen: unverputzte Wände, verschnörkelte Eisenkonstruktionen an den Treppenaufgängen und den Fahrstuhlkörben sowie Dutzende von Büros mit Türen aus mattiertem Glas. Der Umbau befand sich bereits in einer frühen Anfangsphase. Das ganze Gelände war weiträumig abgesperrt, der Innenteil für den späteren Einsatz als Atrium im Großen und Ganzen unberührt geblieben. In den oberen
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