Joe Kurtz 02 - Bitterkalt
etwas anderes, Mr. Kurtz. Seine Studien ergaben, dass es viele Menschen auf dieser Welt gibt, die man als Stufe Null klassifizieren muss. Ihre moralische Entwicklung hat noch nicht einmal den Punkt erreicht, an dem sie Schmerzen und Strafe vermeiden, wenn ihre Launen ihnen etwas anderes diktieren. Das Leid anderer Menschen bedeutet ihnen absolut nichts. Der Fachausdruck dafür lautet ›Soziopath‹, aber die passendere Bezeichnung ist ›Monster‹.«
Kurtz blickte auf Frears’ Finger, die sich um den Deckel des Kästchens klammerten, als wollte er verhindern, dass es wieder aufsprang. »Dieser Kohlberg und Pruno mussten akademische Forschungen betreiben, um das herauszufinden? Das hätte ich ihnen verraten können, als ich fünf war.«
Frears nickte. »Kohlberg beging 1987 Selbstmord – er lief in ein Sumpfgebiet hinein und ertrank. Einige seiner Schüler sagten, er habe nicht mit dem Wissen leben können, dass solche Kreaturen unter uns wandeln.«
»Also sind Sie nach Vietnam gegangen, um herauszufinden, auf welcher Sprosse von Kohlbergs Leiter Sie stehen«, erkannte Kurtz.
John Wellington Frears sah ihm in die Augen. »Ja.«
»Und was haben Sie herausgefunden?«
Frears lächelte. »Vor allem, dass sich die Finger eines jungen Violinisten sehr gut dazu eignen, Bomben und Sprengfallen zu entschärfen.« Er beugte sich nach vorne. »Worüber wollten Sie mit mir reden, Mr. Kurtz?«
»Hansen.«
»Ja?« Der Violinist war der Inbegriff von Aufmerksamkeit.
»Ich glaube nicht, dass Hansen bereits die Flucht ergriffen hat, aber er steht dicht davor. Sehr dicht. Ich glaube, dass er noch ein paar Stunden warten wird, weil ich ein Faktor bin, den er nicht einschätzen kann. Dieser Dreckskerl ist so clever, dass er schon wieder dumm ist – er glaubt, alles zu verstehen. Solange wir ihm einen Schritt voraus zu sein scheinen, bleibt er noch, um zu sehen, was passieren wird – aber nicht viel länger. Ein paar Stunden vielleicht.«
»Ja.«
»Deshalb, Mr. Frears, können wir, wie ich es sehe, dieses Endspiel auf dreierlei Weise bestreiten. Ich finde, Sie sollten die Entscheidung treffen, für welche Variante wir uns entscheiden.«
Frears nickte schweigend.
»Erstens«, sagte Kurtz. »Wir übergeben dieses Kästchen der Polizei und lassen sie Mr. James B. Hansen zur Strecke bringen. Sein modus operandi ist aufgeflogen, deshalb kann er seine Kindermorde und Täuschungsmanöver nicht einfach wie bisher fortsetzen. Er wird ständig auf der Flucht sein.«
»Ja«, erwiderte Frears.
»Aber er könnte Monate oder gar Jahre auf der Flucht vor der Polizei sein«, sagte Kurtz. »Und wenn er dann verhaftet wird, zieht sich der Prozess über Monate oder gar Jahre hin. Nach dem Prozess kann er in Berufung gehen, dann dauert es weitere Jahre, bis ein endgültiges Urteil gefällt wird. Aber Sie haben diese Monate und Jahre nicht mehr. Es sieht so aus, als ließe der Krebs Ihnen nur noch ein paar Wochen.«
»Ja«, bestätigte Frears. »Wie lautet Ihr zweiter Vorschlag, Mr. Kurtz?«
»Ich töte Hansen. Heute Abend.«
Frears nickte. »Und Ihr dritter Vorschlag, Mr. Kurtz?«
Kurtz sagte es ihm. John Wellington Frears lehnte sich im Ledersessel zurück und schloss die Augen, als wäre er sehr, sehr müde.
Frears öffnete die Augen wieder. Kurtz wusste sofort, wie der Mann sich entschieden hatte.
Kurtz wollte um halb sieben gehen, damit er spätestens um sieben am Bahnhof eintraf. Der Sturm hatte bei Sonnenuntergang eingesetzt und es gab einen Viertelmeter Neuschnee, als er zu einem letzten Blick auf den Balkon hinaustrat.
Arlene stand da und rauchte.
»Heute ist Mittwoch, Joe.«
»Und?«
»Du hast den wöchentlichen Besuch bei deiner Bewährungshelferin vergessen.«
»Ja.«
»Ich habe sie angerufen«, verkündete Arlene, »und ihr gesagt, dass du krank bist.« Sie klopfte die Asche von ihrer Zigarette ab. »Joe, wenn es dir gelingt, diesen Hansen zu töten, und die Leute weiterhin davon überzeugt sind, dass er ein untadeliger Polizist ist, dann wird jeder Cop in den Vereinigten Staaten hinter dir her sein. Du wirst dich so weit oben in Kanada verkriechen müssen, dass deine Nachbarn Eisbären sind. Und du hasst die Wildnis.«
Darauf hatte Kurtz keine passende Antwort parat.
»Sie werfen uns in einer Woche aus unserem Keller raus«, sagte Arlene. »Und wir haben es immer noch nicht geschafft, uns nach einem neuen Büro umzusehen.«
Kapitel 33
Das Treffen mit Kurtz war für Mitternacht angesetzt. Hansen traf um zehn
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