Joe Kurtz 02 - Bitterkalt
ähnlich wie im Piaget’schen Entwicklungsmodell. Sagt Ihnen Jean Piaget etwas?«
»Nein.«
»Spielt auch keine Rolle. Piaget hat nachgewiesen, dass alle Kinder verschiedene Entwicklungsphasen durchlaufen – zum Beispiel die Fähigkeit, mit anderen zu kooperieren, die sich bei den meisten Heranwachsenden im Kindergartenalter herausbildet. Lawrence Kohlberg stellte nun die Theorie auf, dass Menschen – nicht nur Kinder, sondern alle Menschen – darüber hinaus bestimmte, voneinander abgrenzbare Stadien der moralischen Entwicklung durchlaufen. Da Professor Frederick Philosophie und Ethik lehrte, war er sehr an Kohlbergs frühen Forschungen interessiert. Diese Inhalte standen auch bei unserem Kurs im Mittelpunkt.«
»Okay.«
Frears holte tief Luft, warf einen unbestimmbaren Blick auf die obszönen Fotos auf der Sessellehne, packte sie zurück in das Kästchen und verschloss es. »Kohlberg unterschied sechs Stadien der moralischen Entwicklung. Stufe Eins ist schlicht die Vermeidung von Strafe. Moralische Regeln dienen ausschließlich dazu, Schmerz zu vermeiden. Im Prinzip die moralische Stufe eines Regenwurms. Wir alle kennen Erwachsene, die auf Stufe eins hängen geblieben sind.«
»Ja«, bestätigte Kurtz.
»Stufe zwei ist eine grobe Form moralischen Urteilsvermögens, die von dem Drang geleitet wird, die eigenen Begierden zu befriedigen«, fuhr Frears fort. »Stufe drei wird manchmal die ›Guter-Junge/Gutes-Mädchen-Orientierung‹ genannt – das Bedürfnis, die Ablehnung oder Kritik anderer zu vermeiden.«
Kurtz nickte und verlagerte sein Gewicht etwas. Die .40 Smith & Wesson drückte sich in seine Hüfte.
»Stufe vier ist die sogenannte Law-and-Order-Stufe«, erläuterte Frears. »Die Moralvorstellung des Menschen folgt hier dem Gebot, durch das eigene Verhalten nicht die Kritik der rechtmäßig anerkannten Autoritäten auf sich zu ziehen. Ein Muster, das sich in manchen Regimes flächendeckend in der gesamten Bevölkerung nachweisen lässt.«
»Nazideutschland«, sagte Kurtz.
»Exakt. Individuen der Stufe fünf scheinen von einem überwältigenden Bedürfnis angetrieben zu sein, die soziale Ordnung und Gesetze, die auf legale Weise rechtliche Verbindlichkeit erlangen, zu respektieren. Das Gesetz wird zu einem Prüfstein, zu einem moralischen Imperativ an sich.«
»Bürgerrechtler, die Naziaufmärsche zulassen«, sagte Kurtz.
John Wellington Frears rieb sich seinen Bart und musterte Kurtz mit einem langen, durchdringenden Blick, als müsse er ihn nach dieser Bemerkung völlig neu einschätzen. »Ja.«
»Ist mit Stufe fünf die Spitze erreicht?«, erkundigte sich Kurtz.
Frears schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn es nach Kohlberg und Frederick geht. Ein Individuum der Stufe sechs trifft Entscheidungen laut ihrer Einschätzung auf Grundlage seines eigenen Gewissens und ist bemüht, sein Handeln in Einklang mit bestimmten universellen ethischen Konstanten zu bringen ... selbst wenn diese Entscheidungen im Widerspruch zu bestehenden Gesetzen stehen. Nehmen Sie Henry David Thoreaus Ablehnung des Kriegs gegen Mexiko als Beispiel. Oder die Bürgerrechtsmärsche der 60er-Jahre in den Südstaaten.«
Kurtz nickte.
»Professor Frederick sagte immer, die Vereinigten Staaten wären von Stufe-sechs-Geistern gegründet worden«, erklärte Frears, »würden von Stufe-fünf-Individuen geführt und aufrechterhalten und größtenteils von Menschen der Stufe Vier und darunter bewohnt. Ergibt das für Sie einen Sinn, Mr. Kurtz?«
»Sicher. Aber das verrät mir immer noch nicht, weshalb Sie die Juilliard verlassen haben, um in den Vietnamkrieg zu ziehen.«
Frears lächelte. »Damals war dieser Gedanke der moralischen Entwicklung sehr wichtig für mich, Mr. Kurtz. Lawrence Kohlbergs Traum war es, eine Persönlichkeit der Stufe Sieben ausfindig zu machen.«
»Wer sollte das sein?«, fragte Kurtz. »Jesus Christus?«
»Genau«, bestätigte Frears ohne den geringsten Hauch von Ironie. »Oder Gandhi. Sokrates. Buddha. Jemand, der nur universellen ethischen Imperativen folgt. Er hat gar keine andere Wahl. Normalerweise reagieren wir anderen auf solche Menschen, indem wir sie töten.«
»Der Schierlingsbecher«, kam Kurtz als Assoziation in den Sinn. Pruno hatte ihn in Attica auch Platos Dialoge lesen lassen.
»Ja.« Frears legte seine langen, eleganten Finger auf das Metallkästchen. »Lawrence Kohlberg fand nie eine Persönlichkeit der Stufe Sieben.«
Was für eine Überraschung, dachte Kurtz.
»Aber er entdeckte
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