Joe Kurtz 02 - Bitterkalt
fahre«, verriet Arlene. »Sie sind jetzt an und werden um Punkt 23 Uhr ausgehen.«
Kurtz, der plötzlich sehr erschöpft war, blickte auf. »Wann bist du jemals in Urlaub gefahren?«
Arlene warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. Kurtz nahm das als Signal für den Aufbruch. »Ich muss noch einen Wagen zurückbringen«, verkündete er und stand auf, um seinen Mantel anzuziehen.
»Nicht, bevor du was gegessen hast«, hielt ihn Arlene auf.
»Ich habe keinen Hunger.«
»Nein? Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen, Joe? Hast du Mittagessen gehabt?«
Kurtz hielt inne, um zu überlegen. Seine letzte Mahlzeit war ein Milchbrötchen gewesen, das er sich auf seiner mitternächtlichen Rückfahrt von Cleveland zusammen mit einem Kaffee an der Tankstelle gekauft hatte. Er hatte den ganzen Mittwoch noch nichts gegessen und seit Dienstagnacht nicht mehr geschlafen.
»Wir werden jetzt alle etwas essen«, verkündete Arlene in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Ich habe Unmengen an Spaghetti gekocht, es gibt frisches Brot und etwas Roastbeef. Ihr habt 20 Minuten Zeit, um euch frisch zu machen.«
»Die brauche ich wahrscheinlich alleine«, konstatierte Pruno. Kurtz lachte, aber der alte Mann warf ihm einen Seitenblick zu, angelte nach seinem schäbigen Kleidersack und verschwand würdevoll im Badezimmer.
Die Familie von Robert Gaines Millworth – seine Frau Donna und sein 14-jähriger Stiefsohn Jason – nahmen wie an jedem Abend gemeinsam das Abendessen ein. James Hansen wusste, wie wichtig es für eine christliche Familie war, sich zumindest für eine tägliche Mahlzeit am Esstisch zu versammeln. Heute gab es Steaks, Salat und Reis. Donna trank Wein. Hansen lehnte Alkohol ab, billigte seinen Ehefrauen den Konsum aber in Maßen zu.
Während des Essens erzählte Donna von ihrer Arbeit in der Bücherei. Jason fachsimpelte über Basketball und Eishockey. Hansen hörte zu und dachte über seinen nächsten Zug in diesem interessanten Schachspiel nach, in das er verstrickt war. Einmal ertappte er sich dabei, wie er die Bilder, die Bücher, die er von hier aus in den Regalen im Wohnzimmer sehen konnte, die teuren Möbel und das Delfter Porzellan wehmütig musterte. Ein Jammer, dass all dies dem Raub der Flammen zum Opfer fallen würde. Aber James B. Hansen hatte noch nie den Fehler begangen, materielle Besitztümer über den inneren Seelenfrieden zu stellen.
Nach dem Essen würde er hinunter in sein Büro gehen, für den Fall, dass Brubaker oder Myers anriefen, das Handy mitnehmen, und darüber nachdenken, was er morgen und in den folgenden Tagen zu tun gedachte.
Für Kurtz war es ein seltsames Dinner – ausgesprochen gut mit einer Riesenportion Spaghetti, zartem Roastbeef, leckerer Soße, knusprigem Brot, knackigem Salat und starkem Kaffee –, aber trotzdem seltsam. Es war eine ganze Weile her, dass er zum letzten Mal ein hausgemachtes Essen mit anderen Leuten zusammen genossen hatte. Wie lange genau? Zwölf Jahre. Zwölf Jahre und einen Monat. Ein Abendessen bei Sam zu Hause, es hatte ebenfalls Spaghetti gegeben. Die kleine Rachel schaukelte wild in ihrem Kinderstuhl, brabbelte vor sich hin, griff nach Kurtz’ Serviette und plapperte in einem fort. Selbst dann noch, als Sam ihm von diesem interessanten Fall erzählte, an dem sie gerade dran war: ein Mädchen, das von zu Hause ausgebüxt war, wahrscheinlich Drogen im Spiel.
Kurtz hörte auf zu essen. Nur Arlene bemerkte es, wandte ihren Blick aber nach kurzer Zeit wieder ab.
Pruno war frisch geduscht und rasiert aus dem Badezimmer aufgetaucht, seine Haut rosa und verbrüht, die Fingernägel immer noch gelb und rissig, aber nicht mehr schmuddelig. Sein schütteres graues Haar, das Kurtz nie anders als in einer Art Heiligenschein um den Kopf des alten Obdachlosen gesehen hatte, trug er jetzt nach hinten gekämmt. Sein Anzug war seit mindestens 20 Jahren aus der Mode und passte ihm nicht mehr. Prunos hagere Gestalt wirkte darin reichlich verloren, aber zumindest schien er sauber zu sein. Wie?, fragte sich Kurtz. Wie schaffte dieser alte Junkie das, wenn er in einem Bretterverschlag in einer Nische unter der Schnellstraße lebte, fernab von einer Waschmaschine?
Pruno – oder »Dr. Frederick«, wie Frears ihn weiterhin anredete – sah ohne seine schützende Kruste aus Dreck und Lumpen noch viel älter und zerbrechlicher aus. Aber er saß sehr aufrecht da, während er aß und trank, und nickte höflich, als Arlene ihm einen Nachschlag anbot. Dabei pflegte er
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