Joel 1 - Der Hund der unterwegs zu einem Stern war
soll. Das ist zuviel.
Die Gedanken überschlagen sich, und Joel kann sie kaum festhalten. Er weiß, daß man nur über eine Sache zur Zeit nachdenken soll, aber genau das fällt ihm in diesem Augenblick schwer. Am liebsten würde er nur vom Fliegenden Pferd träumen. Doch jetzt muß er sich erst Gedanken über die Vorbereitungen für heute nacht machen. Aber er kann sich nicht konzentrieren. Mitten in all seine wichtigen Gedanken trampelt Sara mit ihren Galoschen und ihrem roten Hut und ihrer großen Hand, mit der sie ihm über die Wange gestreichelt hat.
Die Höhle hilft nichts. Joel wird immer ungeduldiger. Er geht zu Papa Samuel, der auf dem Stuhl sitzt und mit geschlossenen Augen Musik hört.
Joel tut etwas, was er selten tut. Er setzt sich auf seinen Schoß.
»Du bist ja schwer wie ein Baumstamm«, stöhnt Papa Samuel. »Du erdrückst mich!«
Im Radio erzählt eine meckernde, unangenehme Stimme von einer Fahrt mit Motorrad und Beiwagen durch Italien.
»Genua«, sagt Papa Samuel plötzlich. »Da bin ich schon mal gewesen.«
»Ich nicht«, sagt Joel, »bis jetzt noch nicht.« Papa Samuel lacht glucksend, so daß sein Bauch wackelt. Aber worüber er lacht, sagt er nicht.
Die Fahrt mit dem Beiwagen ist zu Ende, und jetzt kommt Marschmusik. Papa Samuel stampft den Takt mit einem Fuß. Aber dann wird ihm Joel wirklich zu schwer. »Ich kann dich ja kaum noch halten«, sagt er. »Wieso bist du eigentlich so schwer, wo du doch so mager bist?« Plötzlich wird er ernst.
»Sara«, sagt er, »die, die hier war. Sie hat mal einen Jungen wie dich gehabt. Aber er ist bei einem Brand ums Leben gekommen. Er und sein Papa. Sie haben weit weg von hier gewohnt. Danach ist Sara hierher gezogen. Es muß schwer für sie sein, jedesmal daran erinnert zu werden, wenn sie jemanden wie dich sieht.«
Später im Bett denkt Joel an den Brand. Er denkt, wenn Sara seinen Papa nicht auffrißt, darf sie vielleicht doch mal wiederkommen und Kaffee mit ihnen trinken. Wenn sie ihm Papa Samuel nur nicht wegnimmt…
Er liegt im Dunkeln, und es fällt ihm schwer, sich wach zu halten. Bis Mitternacht sind es noch viele Stunden, viele Stunden, die er warten muß.
Er liegt da und schaut auf die leuchtenden Zeiger seines Weckers. Unendlich langsam bewegen sie sich auf Mitternacht zu. Viertel vor zwölf tappt er vorsichtig zur Tür hinaus. Ihm kommt es so vor, als ob es im Vorraum immer noch nach Sara riecht.
Draußen ist es sternklar und still. Vielleicht kommt Ture gar nicht, denkt er. Aber er läuft durch die nachtleeren Straßen und stellt sich in den Schatten eines Waggons beim Rangierbahnhof.
Das weiße Gerichtsgebäude mit seinen hohen Säulen und dem Balkon obendrauf ist dunkel. Nirgendwo leuchtet ein Fenster.
Joel wartet…
5
In weiter Entfernung kann Joel das gelbe Ziffernblatt der Kirchturmuhr erkennen. Wenn er die Augen zusammenkneift, kann er die beiden Zeiger unterscheiden. Fünf Minuten nach Mitternacht.
Er stampft mit den Füßen, um sich warm zu halten. Der Güterwaggon neben ihm ist groß und dunkel, wie ein Tier der Urzeit, das in seinem Stall angekettet steht. Er stellt sich vor, ein Güterwaggon könnte denken. Und was geschieht, wenn ein Güterwaggon anfängt zu knurren? Wer verfolgt einen Güterwaggon, der sich von seinen Ketten losreißt und abhaut?
»Nur Menschen können denken«, flüstert Joel vor sich hin. »Nur Menschen…«
Plötzlich schaudert er. Er hat ein Gefühl, als ob da jemand in der Dunkelheit sei und ihn beobachte. Hastig dreht er sich um, doch da sind nur die stummen Güterwaggons. Er schaut zum Gerichtsgebäude, aber alles ist dunkel, nirgends ein Licht. Plötzlich bekommt er es mit der Angst zu tun. Da ist jemand in der Dunkelheit, der ihn beobachtet. Er weiß es, obwohl er nichts sehen oder hören kann. Er hält den Atem an und lauscht. In der Nähe atmet jemand.
Er lauscht, aber er denkt, er bilde sich das nur ein.
Da spürt er eine Hand auf seiner Schulter.
Der Tod, denkt er. Das muß der Tod sein. Eine Eisenklaue, die mich an der Schulter packt.
Er schreit laut auf in der Dunkelheit.
»Hast du dich erschrocken?« sagt Ture, der hinter ihm steht.
Als er Ture erkennt, wird ihm klar, daß er sich fast in die Hosen gemacht hätte. Das wäre eine Katastrophe gewesen. Wenn man sich bei der Kälte in die Hosen pinkelt, ist es zunächst warm, aber dann fängt man an zu frieren, daß es einen schüttelt.
»Ich bin gut im Anschleichen«, sagt Ture. »Ich hab dich schon mehrere Minuten
Weitere Kostenlose Bücher