Joel 1 - Der Hund der unterwegs zu einem Stern war
und lauscht.
Eigentlich hat er Angst im Dunkeln. Weil er die Wände und die Decke nicht sehen kann, seine eigenen Hände nicht sehen kann. Wenn man im Dunkeln erwacht, ist man auf eine Weise einsam, die ist schrecklich. Wenn man mitten in der Nacht aufwacht, kann man gar nicht so sicher sein, ob man nicht allein auf der ganzen Welt ist.
Er knipst die Lampe an, die auf dem blauen Hocker steht. Dann macht er sie wieder aus. Jetzt ist die Dunkelheit nicht mehr schrecklich. Jetzt weiß er, daß sich hier nichts verändert hat, während er schlief.
Er tappt hinaus in die Küche, schnürt seine Stiefel zu und schleicht lautlos die Treppe hinunter. Die alte Westman hustet trocken in ihrer Wohnung.
Draußen ist es sternklar, und er läuft, damit er nicht zu spät zu den Güterwaggons kommt. Ture wartet in ihrem Schatten auf ihn. Wieder schleicht er sich an und packt Joel bei den Schultern, so daß er zusammenfährt. Das hätte ich mir denken sollen, das macht Ture so lange, wie ich zusammenzucke, denkt er.
Zunächst suchen sie nach dem Hund. Joel zeigt Ture die Straßenlaterne, wo er den Hund zuletzt gesehen hat. Er hat Lust, Ture von der Nacht zu erzählen, als er das Fliegende Pferd aus dem Fahrradladen genommen hat. Aber vielleicht würde Ture ihm nicht glauben? Joel weiß ja nicht, was er überhaupt denkt. Und er wird es auch nicht mehr erfahren, wenn Ture in einer Woche durchbrennt. Zum erstenmal ist er einem Menschen begegnet, von dem er weiß, daß er sich wieder von ihm trennen und daß er ihn nie wiedersehen wird, solange er lebt. »Ein Hund!« sagt Ture plötzlich. »Wieso suchen wir eigentlich nach einem Hund?«
Joel weiß nicht, was er antworten soll. Er weiß nur, daß der Hund wichtig ist. Der Hund, der unterwegs zu einem Stern ist. Er kann es nicht erklären, er weiß es nur.
Plötzlich versetzt Ture ihm einen Stoß in den Rücken. »Da kommt jemand«, flüstert er.
Er zeigt die Straße entlang, und Joel sieht auf der anderen Straßenseite eine dunkelgekleidete Gestalt herankommen. Ein Mensch, der im Licht der Straßenlaterne auftaucht und wieder im Schatten verschwindet. Sie drücken sich dicht gegen die Hauswand, um sicher zu sein, daß sie nicht zu sehen sind. Die dunkelgekleidete Gestalt geht mit gesenktem Kopf. Als ob es nur ein Körper wäre, der bei den Schultern endet. Aber dann sieht Joel, wer es ist. Die Nasenlose. Die Frau, die mitten im Gesicht ein Taschentuch anstelle einer Nase hat. »Sie heißt Gertrud«, flüstert er Ture ins Ohr. »Ich weiß, wer sie ist.«
»Warum läuft sie denn mitten in der Nacht mit gesenktem Kopf herum?« fragt Ture. Er macht ein Zeichen, daß sie ihr folgen sollen. Sie schleichen an den Hauswänden entlang, der gebeugten dunklen Gestalt nach. Joel hat immer geglaubt, daß Menschen es spüren, wenn sie verfolgt werden. Aber Gertrud offenbar nicht. Die Nasenlose. Mit Gertrud hat man entweder Mitleid, oder man mag sie nicht. Aber die meisten fürchten sich vor ihr. Leid kann sie einem tun, weil sie ihre Nase bei einer Operation im Krankenhaus verloren hat. Man kann sie aber auch ablehnen, weil sie sich nicht zu Hause versteckt, sondern in den Straßen herumläuft und ihr entstelltes Gesicht zeigt.
Sie muß sehr mutig sein, und vor mutigen Menschen haben die Leute Angst.
Wenn Joel ihr auf der Straße begegnet, findet er es unheimlich und aufregend zugleich, ihr Gesicht zu sehen, in dem die Nase fehlt.
Häufig hat sie ein weißes Taschentuch in das Loch gestopft. Jedesmal wenn er ihr begegnet, nimmt er sich vor, sie nicht anzugucken, aber er kann es nie lassen. Sie gehört der Freikirche an, die neben dem Gemeindesaal liegt. Jeden Tag geht sie in der Stadt herum und verkauft religiöse Zeitungen. Fast niemand traut sich, ihr keine abzunehmen.
Er weiß, daß sie versucht hat, sich im Fluß zu ertränken, als man ihre Nase wegoperiert hatte. Aber jemand hat gesehen, wie sie ins Wasser sprang, und ruderte mit dem Boot vom Pferdehändler hinaus und zog sie heraus. In den Taschen hatte sie alte Bügeleisen, und um den Hals hatte sie sich eine dicke Eisenkette geschlungen. Dann nahm sich Hurra-Pelle, der Pastor der Freikirche, ihrer an, und jetzt läuft sie herum und verkauft seine Zeitungen. Sie wohnt allein in einem kleinen Haus auf der anderen Seite der Brücke. Offenbar ist sie jetzt auch dorthin unterwegs.
Sie folgen ihr bis zur Brücke über den Fluß. Dort ist es schwer, sie zu verfolgen, weil viele Lampen auf der Brücke brennen. Sie bleiben stehen und sehen
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