Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
legte sich der Länge nach auf den Fußboden und betrachtete die zerschnittenen Karten. Er versuchte, sich das Geographiespiel weiter auszudenken. Aber das machte auch keinen Spaß. Da legte er sich auf den Rücken und guckte zur Decke hinauf. Er folgte den Rändern der Feuchtigkeitsflecken mit den Augen.
Plötzlich hatte er ein Gefühl, als läge er wieder unter dem Bus.
Wenn er nun gestorben wäre!
Dann hätte er nie gemerkt, wie schlecht es in Simon Urväders Haus roch. Oder hätte nie wieder mit Papa Samuel am Küchentisch gesessen und wäre mit ihm über die Weltmeere gereist.
Er wäre nie mehr eingeschlafen und nie mehr aufgewacht.
Die Gedanken gefielen ihm nicht. Sie waren wie Ameisen in seinem Kopf. Er richtete sich auf und dachte, daß es Zeit sei, ins Bett zu gehen.
Eigentlich hatte er die größte Lust, alle Gedanken an die gute Tat aufzugeben. Gertrud sollte sich doch selbst einen Mann suchen, wenn sie einen wollte. Sie konnte sich im Kirchturm einmauern und auf einen warten, der zu ihr heraufkletterte …
Das verflixte Mirakel, dachte er.
Eigentlich wäre es wohl Eklund, der die gute Tat ausführen müßte.
Der hatte doch alles angerichtet und Glück gehabt, daß er keinen Menschen totgefahren hatte.
Aber im tiefsten Inneren wußte Joel, daß er es war, der die gute Tat tun mußte. Und dann war es am besten, gleich damit anzufangen.
Er setzte sich wieder aufs Bett und begann, in seinem Tagebuch zu schreiben:
»Heute habe ich, Joel Gustafson, der noch keinen Spitznamen hat, beschlossen, daß Gertrud einen Mann haben muß. Das soll meine gute Tat zum Dank für das Mirakel sein. Ich habe David oder Rolf dazu ausersehen, ihr Mann zu werden. Nun muß ich nur entscheiden, wer von ihnen beiden besser zu ihr paßt…«
Er las durch, was er geschrieben hatte. Es war gut. Es war mehr als genug.
»Willst du nicht ins Bett gehen, Joel?« rief Papa Samuel aus seinem Zimmer. Joel hörte, daß er das Radio einfach rauschen ließ. Das machte er, wenn er dem Meer lauschen wollte.
»Sofort!« antwortete Joel. »Bin schon dabei.« Obwohl der Ort so klein war, hatte er David und Rolf noch nie gesehen. Er wußte nicht, wie sie mit Nachnamen hießen, wo sie wohnten und arbeiteten. Was sollte er tun, wenn sie hundert Kilometer entfernt wohnten?
Morgen muß ich anfangen, dachte er. Ich werde Otto fragen. Der weiß von allen, wie sie heißen.
Joel ging in die Küche und legte das Tagebuch zurück in »Celestines« Glasvitrine. Dann zog er sich aus, putzte die Zähne und kroch ins Bett.
Im ersten Augenblick war es so kalt, daß er alle Muskeln seines Körpers anspannte. Dann wurde es langsam wärmer unter der Decke.
»Ich bin im Bett!« rief er.
Samuel kam in seinen Pantoffeln angeschlurft.
»Papa«, sagte Joel, »hast du jemals einen Spitznamen gehabt?«
Samuel sah ihn erstaunt an.
»Warum fragst du danach?«
»Ich möchte es bloß wissen.«
Samuel schüttelte den Kopf.
»Als ich zur See fuhr, haben mich einige Sam genannt«, antwortete er. »Aber das ist ja wohl kaum ein Spitzname, oder?«
»Hat Mama einen gehabt?«
Er wunderte sich selbst über die Frage. Die hatte er gar nicht vorgesehen. Sie war ganz von allein gekommen.
Samuel sah ernst aus. »Nein«, sagte er, »sie hieß Jenny, sonst nichts.«
Joel richtete sich heftig auf. »Das ist falsch«, sagte er. »Was soll daran falsch sein?« fragte Samuel verwundert.
»Sie hieß nicht Jenny«, antwortete Joel. »Sie
heißt
Jenny.«
Samuel nickte langsam. »Ja«, sagte er, »sie heißt Jenny. Da hast du recht. Schlaf jetzt.«
Hastig strich er Joel über die Wange und ging in sein Zimmer. Die Tür zur Küche ließ er angelehnt. Ein schmaler Lichtstreifen reichte bis zu Joels Bett.
Diesen Lichtstreifen betrachtete Joel immer eine Weile, bevor er einschlief. Dabei konnte er hören, wie Samuel Wasser in die Schüssel goß.
Das war etwas, das sich nie veränderte. Das war jeden Abend geschehen, solange Joel zurückdenken konnte. Er spürte, wie seine Augenlider schwer wurden. Als letztes vorm Einschlafen dachte er, daß er sich überhaupt nicht darauf freute, Otto danach zu fragen, wie David und Rolf mit Nachnamen hießen. Und wo sie wohnten.
Um Otto sollte man möglichst einen großen Bogen machen. Er ärgerte die anderen und benahm sich blöde. Aber wen sonst sollte er fragen?
Er drehte sich zur Wand und rollte sich unter der Decke zusammen. Am nächsten Tag wollte er mit der Jagd nach dem Käsemann und seinem Freund beginnen…
6
Es kam, wie
Weitere Kostenlose Bücher