JörgIsring-UnterMörd
eine Heimat in
Germanien, die anderen verschlug es auf die Insel. In gewissem Sinne sind wir
also Brüder. Doch das ist lange her. Brüder schlagen unterschiedliche Wege ein,
aber derjenige, den das englische Volk gewählt hat, ist ein Irrweg. Jahrelang
habe ich mich bemüht, England an meine Seite zu bringen, so wie sich ein verliebter
Freier abstrampelt, seiner Braut das Ja-Wort abzuringen, doch es ist mir nicht
gelungen. England benimmt sich störrisch und herrisch wie eine Herzogin, die
sich auf ihrem Schloss unangreifbar wähnt. Aber beim ersten Schritt über den
Schlossgraben wird sie von ihren Untergebenen erschlagen. Das britische
Weltreich ist längst zerfallen, die Armee ein Schatten ihrer selbst. Nur über
die Flotte bezieht England seine Macht, doch eine Flotte reicht in der heutigen
Zeit nicht aus, um die Welt in Schach zu halten. Niemals! Trotzdem ist England
nicht bereit, sich auf unsere Seite zu schlagen. Warum? Weil diese angeborene Arroganz,
dieser Dünkel so dominant ist, dass England seine Freunde nicht mehr von seinen
Feinden unterscheiden kann. Was wäre das für eine Allianz gewesen, wenn
Deutschland und England zueinander gefunden hätten? Das Aus für Kommunisten
und Bolschewiken. Jetzt dreht sich die Welt andersherum, jetzt mussten wir uns
mit den Bolschewiken verbünden, und das britische Reich wird zu Asche zerfallen.
Das englische Volk hat das deutsche nicht mehr als Freund verdient, weil es den
Blick für die Wirklichkeit verloren und sein Blut vermischt hat. England ist
nur noch ein Bastard.«
Hitler redete sich allmählich in Rage, nahm dabei keine Notiz von seinen
Gästen. Dahlerus hörte zunehmend unwilliger zu. Er hatte das Gefühl, einer
Inszenierung beizuwohnen, in der ihm die Rolle des gefügigen Beobachters
zugedacht war. Das war nicht nach seinem Geschmack. Bevor Hitler erneut
loslegte, ergriff der Schwede das Wort.
»Eure Exzellenz, bei allem Respekt, aber ich muss entschieden
widersprechen.«
Göring sah Dahlerus an, als sei ihm gerade erst bewusst geworden, dass der
Schwede überhaupt einer verständlichen Sprache mächtig sei.
Hitler ranzelte irritiert die Brauen, hob den Kopf wieder auf
Begrüßungsniveau und neigte den gesamten Oberkörper leicht nach vorne. In
seinem Gesicht las Dahlerus vor allem eine Frage: Was will dieser Mensch von
mir?
Hitlers Ton hatte etwas Blasiertes. »Nun?«
»Wie Sie wahrscheinlich von Herrn Göring wissen, habe ich mehr als zehn
Jahre meines Lebens in England verbracht. Während dieser Zeit hatte ich das
Glück, Menschen aus allen sozialen Schichten kennenzulernen. Etliche nenne ich
heute meine Freunde. Aber auch den meisten derjenigen, denen ich nicht
freundschaftlich verbunden bin, zolle ich meine Hochachtung. Die Engländer sind
keineswegs, so wie Sie es darstellen, von Arroganz zerfressen, sondern
freundliche, fleißige und fromme Menschen. Sie verwechseln Stolz mit Arroganz.
Die Engländer sind stolz auf ihr Land und ihre Geschichte, und so gehen sie
durchs Leben. Sie arbeiten hart, sind zäh und beharrlich, sonst hätten sie
nicht das erreicht, was sie erreicht haben. Ich kann diesen Menschen nur
meinen uneingeschränkten Respekt zollen.« Hitler musterte den Schweden von oben
bis unten. »Ihr Plädoyer für die Briten imponiert mir, Herr Dahlerus. Wo genau
haben Sie in England gearbeitet?«
»Bei Simplex Motorworks in Sheffield. Gewohnt habe ich in Tinsley, bei
gewöhnlichen Arbeitern. Es war eine außerordentliche Erfahrung. Man hat mich
herzlich aufgenommen und anstandslos integriert.«
»Erzählen Sie!
Was hat Sie besonders beeindruckt, wie unterscheidet sich Ihrer Meinung nach
der Typus des Engländers von dem des Deutschen?«
»Meiner Meinung
nach sind sie sich sehr ähnlich. Vielleicht identifiziert man sich in England
noch mehr mit dem, was man tut und was man ist. Selbst der einfache Arbeiter
kann sich für seinen Job begeistern, und er steht treu zu dem Unternehmen, das
ihn beschäftigt. Er ist anspruchslos, was sein tägliches Leben betrifft, und
findet noch im Geringsten eine Zufriedenheit, die eine Gemeinschaft
zusammenhält. So habe ich es zumindest erlebt, und das waren keine Eindrücke
von ein paar Tagen, sondern über acht Monate hinweg. Außerdem bin ich mit dem
Fahrrad durch Schottland gereist, habe mir also noch mehr Anschauung direkt vor
Ort verschafft.«
Ȇber die
Unfähigkeit, ein Land so zu regieren, dass es einheitlich denkt und handelt?
Oder die Langeweile von Lords, die es vorziehen, zu Pferde
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