JörgIsring-UnterMörd
auf keinen Fall gefährden. Oda musste
nicht alles wissen. Weder sie noch Göring durften mehr erfahren.
Sie sah ihn ernst an. »Ich hoffe, dass du deine Meinung änderst, Richard.
Wenn Edgar den Jungen zuerst aufspürt, wird es weitere Tote geben, das ist dir
doch klar, oder?«
»Edgar wird ihn nicht finden. Genauso wenig wie
Göring.«
Oda stand auf. »Warten wir's ab.«
Als Oda gegangen
war, hatte Krauss ein wenig zu lesen versucht, um sich abzulenken. Im Regal
standen hauptsächlich Klassiker der deutschen Literatur. Er griff sich
Schillers »Räuber« und legte sich aufs Bett. Doch es fiel ihm schwer, sich auf
die Geschichte zu konzentrieren, auch wenn sie von zwei unterschiedlichen
Brüdern handelte, und so schlief er bald ein.
Oda brachte ihm Abendessen, ohne weiter mit ihm zu reden. Krauss war das
recht. Er wartete darauf, dass seine Kräfte zurückkehrten. Wieder schlummerte
er weg. Als er aufwachte, fühlte er sich zum ersten Mal seit Tagen wieder relativ
frisch. Die Schmerzen waren in den Hintergrund getreten. Ohne Tageslicht vermochte
er jedoch die Uhrzeit nicht zu bestimmen. Es hätte genauso gut spät am Abend
wie früh am Morgen sein können. Er legte sich aufs Bett, las ein paar Seiten,
stand auf, stöberte im Bücherregal, legte sich wieder hin.
Plötzlich rappelte es an der Tür. Oda kam herein, die Maschinenpistole im
Anschlag. Sie trug eine graue Uniform. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem
Zopf gebunden. Ihr Ton war scharf. »Setzen Sie sich auf! Die Hände hinter den
Kopf.«
Krauss tat, wie
ihm geheißen. Oda stellte sich an die Wand ihm gegenüber.
Ein Mann betrat den Raum. Krauss erkannte ihn sofort. Es war Hermann
Göring. Krauss hatte den Feldmarschall schlanker in Erinnerung. Göring steckte
so prall in seiner Uniform, dass Krauss fürchtete, das Koppelschloss könne
aufspringen. Auf der Brust trug er einen seiner obligatorischen Orden, die
schwarzen
Stiefel waren blank gewienert. In der Hand hielt der Feldmarschall eine
Reitgerte. Er grinste so breit, dass seine Wangen aussahen wie zwei speckige
Brötchen. Göring setzte sich in den Sessel, in dem etliche Stunden zuvor Oda
gesessen hatte. Er schlug sich mit der Gerte lässig aufs Knie.
»Krauss - Richard Krauss. Der Bruder des gefürchteten Edgar. Sie sind ein
ganz schöner Schlawiner, dass Sie sich hier blicken lassen. Aber ich schätze
Leute, die sich was zutrauen.« Göring zeigte mit der Gerte in Krauss' Richtung.
»Nehmen Sie die Hände runter. Das geht in Ordnung, Oda, was denkst du?«
Oda nickte. »Er ist gefährlich.«
Göring lachte
leise, was seine Backen zum Schwingen brachte. Krauss beobachtete ihn
interessiert, schätzte das Gewicht des Feldmarschalls. Mindestens 140
Kilogramm.
»Sonst wäre er ja nicht hier. Außerdem liegt das in
der Familie.«
Krauss hatte die Hände im Schoß, saß da wie ein Schuljunge. »Wenn Sie das
sagen.«
Göring runzelte
fragend die Stirn. »Sind wir uns mal begegnet?«
»Persönlich?
Nicht, dass ich wüsste. Vielleicht einmal in Begleitung von Edgar. Ich
erinnere mich nicht.«
Krauss erinnerte
sich sehr wohl, Göring bei verschiedenen offiziellen Anlässen gesehen zu
haben. Allerdings waren sie einander nie vorgestellt worden. Warum auch? Göring
interessierte sich einen Dreck für niedere Chargen, und Krauss spielte eine
unbedeutende Rolle. Edgar war das Gesicht der »Söhne Odins«.
Göring grinste
wieder. »Dafür holen wir es ja jetzt nach. Und das Schöne ist, wir müssen uns
gar nichts voneinander erzählen. Sie wissen, wer ich bin, und ich weiß alles
über Sie. Das spart enorm viel Zeit.«
Krauss reagierte nicht auf Görings joviales Verhalten. Er blieb kühl.
»Warum sind Sie dann überhaupt gekommen? Da wäre die Ersparnis viel größer
gewesen.«
»Ein Witzbold sind Sie auch. Nun, leider ließ sich das nicht vermeiden.
Denn, das können Sie mir glauben, ich hätte auf Ihre Bekanntschaft gerne
verzichtet. Unglücklicherweise besitzen Sie etwas, was ich gerne hätte.«
»Da sind Sie nicht der Einzige.«
»Aber derjenige mit dem besten Angebot.« Göring strahlte wieder.
Krauss rutschte im Bett zurück, so dass er sich mit dem Rücken an die Wand
lehnen konnte. Oda ließ ihn nicht aus den Augen. »Da bin ich aber gespannt.«
Göring wedelte mit seiner Reitgerte herum. Er blitzte Krauss an. »Sie
verraten mir, wo der Junge steckt, und ich lasse Sie frei. Oda hilft Ihnen,
sich an Ihrem Bruder zu rächen. Das ist es doch, was Sie wollen, oder?«
»Könnte sein. Aber
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