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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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konnte nicht lesen, er war nervös, er wartete auf Leffers, Leffers war, je länger Thewe auf ihn warten musste, umso mehr, zu Thewes letzterHoffnung geworden, obwohl auch dieser Gedanke Unsinn war, das Treffen überhaupt eine falsche Idee. »Bei dir«, rief Leffers ins Telefon, »alles okay?« Mit gepresster Stimme versicherte Thewe, dass bei ihm alles bestens sei. »Wann kommst du?« fragte Thewe. »Ja, schwierig«, antwortete Leffers, »wir haben hier Notfall, ginge bei dir auch morgen?« Morgen sei schlecht, meinte Thewe, er habe ihm doch schon gesagt, dass er morgen nach Schönhausen fahre. »Richtig, richtig!« sagte Leffers, »dann komm ich heute noch, klar! Wie lange bist du wach?« Thewe zögerte. Die Aussicht, hier weiter auf Leffers zu warten, war fürchterlich. Er wollte die Verabredung absagen, aber die richtigen Worte kamen ihm nicht, es fehlte die Kraft. »Bist du noch dran?« fragte Leffers. »Ja.« »Gut, hör zu, bis halb elf, elf Uhr spätestens bin ich da, wenn sich nochmal was ändern sollte, sag ich rechtzeitig bescheid, okay?« Dieses »okay« sendete Zeitdruck mit, Thewe nickte, sagte: »Sehr gut, ja.« »Wunderbar, bis später also!« rief Leffers, und Thewe wusste, dass es mit dieser Verabredung heute nichts mehr werden würde. Er stand da und schaute nach draußen.
    Irgendeine fundamental falsche Bewegung hatte ihn hierher gebracht. Er überlegte, wie es dazu gekommen war, dass kein einziger anderer Mensch mehr für ihn erreichbar war in diesem Moment. Er hatte zu viele Gesetze des Überlebens in Gesellschaft zu oft missachtet. Er hatte sich als Einzelkämpfer in der Firma gesehen, weil er frei sein wollte von den üblichen taktischen Bindungen, den Lügen und Seilschaften. Das hatte ihm keinen Erfolg gebracht. Er war auf den Chefposten in Krölpa berufen, dorthin abgeschoben worden, eine Stelle ohne Mandat und ohne Zukunft. Trotzdem hatte er dort seine Arbeit ordentlich gemacht und sich nebenher mit anderen Dingen beschäftigt, dieses Haus hier bei Berlin gekauft, Reisen gemacht. Kochen, Essen gehen, Wein, Kultur. Durch den Alltag der Arbeit, sein inneres Stillstehen darin und die Dauer der Jahre hatte er das eigene Altern nicht bemerkt, aber plötzlich war es so: er war alt. Er war inzwischen älter als alle seine Chefs, älter auch als die Kollegen, die ihm gleichgestellt waren. Thewe war machtlos, unwichtig, alt und ohne Rückhalt von weiter oben. Er hatte gern für Assperg gearbeitet, es aber abgelehnt, beim alten Assperg oder dessen Frau um Anerkennung dafür nachzusuchen. Es war ihm gegen die Ehre gegangen, sich an den erniedrigenden Untertanenritualen, die am Hof Assperg üblich waren, zu beteiligen. »Es muss doch auch ohne diese Schleimereien gehen«, hatte Thewe gedacht, sich damit aber geirrt. Sein Hochmut war falsch gewesen. Überflüssig war Thewe schon lange, dann wurde er auch noch lästig, weil er Holtrop bei der neuesten Compliancereorganisation im Weg war. Daraus folgte, dass man ihn als jemanden, der lästig war, beseitigte. Da gab es, aus Sicht der Firma, keine Sentimentalitäten. Auch hatte niemand Angst, Thewe zu entfernen, im Knopfdruckmodus: Freund entfernen, denn er hatte keine Drohmittel aufgebaut, mit denen er sich wehren konnte. Man hatte ihn abgeschafft, so einfach war das, und der Irrsinn war, er war selber auch noch schuld daran. Er fühlte all das unklar, ganz richtig denken konnte er es nicht, dazu war er geistig zu lasch. Die Bilanz war klar erkennbar: Er war allein. Thewe wollte vom Fenster weggehen, wusste aber nicht, wohin.
    Auf der anderen Seite des Sees, wo auf einer schmalen Landzunge eine Kleingartenkolonie angelegt war, die noch aus Vorwendezeiten stammte, waren zwischen Büschen und Bäumen vereinzelt Lichter in den Hütten zu sehen, obwohl es eigentlich verboten war, dort zu übernachten.

XXII
    Leffers ging sofort zum Kicker zurück. Von der Glaskabine, aus der heraus er mit Thewe telefoniert hatte, ging Leffers quer durch das offene Großraumbüro an den Arbeitsplätzen seiner Leute, den Computern und Schreibtischen, Gerätekartons, Rennrädern und einem Sperrmüllsofa vorbei richtung Hintereingang und Nebenraum mit Kicker. Die Hälfte der Schreibtische war noch besetzt, obwohl es bald zehn Uhr abends war, eine gedämpft konzentrierte, inhaltistische Arbeitsstimmung ging von den bewegungslos vor ihren leuchtenden Computerbildschirmen sitzenden Leuten aus, Leffers wurde als Chef heute nicht mehr gebraucht, blieb aber noch da, weil er abends in

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