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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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ließ es krachen.
    Holtrop war allein im Aufzug des Hilton am Gendarmenmarkt, der Aufzug fuhr nach oben, und Holtrop hatte beim Griff ins Jackett erschreckt festgestellt, dass die Tabletten nicht an dem für sie vorgesehenen Platz waren. »Ist ja komisch«, dachte Holtrop, stieg im sechsten Stock aus und ging in das Zimmer, das er hier immer hatte, ExecutiveSuite 618 , mit Blick nach vorne hinaus auf den Deutschen Dom. Der Fernseher begrüßte Holtrop namentlich und in vielen bunten Farben und verkündete ihm schriftlich, von Gutelaunemusik umspült, die Anzahl der für ihn hier schon wartenden Nachrichten: vier. Holtrop durchsuchte mit ungeduldigen Griffen sein Jackett, den Mantel und die Tasche, zuletzt hatte er in Krölpa während des idiotischen Telefonats mit Ahlers von den Tabletten genommen, dann aber die Kapsel dort offenbar liegengelassen. Irgendwo zwischen den Papieren oder beim Waschzeug hatte Holtrop immer etwas dabei, das ergab sich durch den nicht so genau kontrollierten Gebrauch automatisch, aber nirgendwo konnte er heute eine Packung, eine Dose, einen Streifen, eine Kapsel finden: TRADON , die kleinen weißen Pillen, nichts dabei, »schlecht«, dachte Holtrop und merkte, wie die Laune, die durch das Interview, den vergangenen Tag, die Herfahrt nach Berlin und die Vorfreude auf das Treffen mit Leffers eigentlich besonders angenehm gehoben gewesen war, schlechter wurde, und zwar rasend schnell. Holtrop zog die Schuhe aus und legte sich aufs Bett. Er war müde, erschossen, erschöpft, abends um zehn, das war ja wohl ein Witz. Nach einer Zeit des toten Daliegens nahm Holtrop das Telefon und bestellte beim Concierge eine Packung der Tabletten, dann in der Küche eine Kleinigkeit zu essen. »Geht doch«, dachte Holtrop, stand am Fenster und schaute auf den Platz hinaus, wo die Buden für den Weihnachtsmarkt schon aufgebaut, aber noch nicht in Benützung waren.
    Das Essen kam. Im Fernsehen wurde eine Talkshow gezeigt, Verona Feldbusch amtierte als Queen des von ihr gelebten neuen Feminismus, der den von Alice Schwarzer, wie Verona Feldbusch das nannte, alt aussehen lassen würde, dazu wurden alte Fotographien einer sackhaft bekleideten Alice Schwarzer gezeigt und die lebenden Bewegtbilder des aktuell sehr stark ausgeformten, wenig bekleideten und situativ bedingt üppig bewegten Busens von Verona Feldbusch, die durch die Gestikulation der Arme das von ihr Gesagte groß aufwogen ließ. Die Talkshow hieß RIVERBOAT , ein Ostprodukt, Holtrop telefonierte mit Dirlmeier, dann mit seiner Frau. Da kam von unten der Anruf des Concierge, Holtrop sagte in das Handy zu seiner Frau, »wart mal kurz, Schatz!«, und der Concierge erklärte, leider könne er die angegebenen Tabletten nicht besorgen, da diese rezeptpflichtig seien. »Ja natürlich!« schrie Holtrop den Concierge an, »was soll denn das heißen: nicht besorgen!« Von dieser sehr unfreundlichen Reaktion Holtrops unberührt und mit einer Höflichkeit, die umso ausgesuchter, höflicher und beleidigender wurde, je lauter und absurder Holtrop sich erregte, erklärte der Concierge immer wieder das gleiche: tut mir leid, geht leider nicht. Holtrop, furious, steaming, unberuhigbar, schrie nur noch einzelne Worte wie »Geschäftsführer! Folgen haben! Nie erlebt!« und knallte zuletzt den Hörer auf das Telefon, dazu musste man inzwischen in einem Luxushotel einchecken, um am Ende eines Wuttelefons den Hörer wirklich noch auf die Gabel des Telefons, oder wenigstens die Hörerliegestelle, wenn schon nicht die Gabel, knallen zu können. »Bist du noch dran?« schrie Holtrop ins Handy und beendete das Gespräch mit seiner Frau. Eben noch bewitzelt von der Sexphilosophie des Regisseurs der irren Riverboat-Talkshow und davon locker amüsiert, war Holtrop jetzt wirklich am unteren Ende der Launeskala angekommen. Holtrop rief bei Leffers an, »wann können Sie im Dobrindt sein?«, zog sich die Kleider aus und ging beschmutzt, bespuckt und ausgebuht ins Bad und legte sich dort, in Barschelstimmung angekommen, in das heiße Badewannenwasser.

XXIII
    Die Stadtmitte von Krölpa war um halb zehn Uhr abends ausgestorben. Zwei dürre Einbahnstraßen, in denen das Licht elektrischer Laternen gelb, schwach und uralt auf die schwarzen Pflastersteine am Boden heruntersinterte, jede Viertelstunde raste hochtourig röhrend ein Kfz-Mechanikerauto die leere Straße hinauf und die andere hinunter, dann war es wieder still, und nur die Fensterflächen in den Häusern flackerten matt im

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