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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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hektischen Rhythmus der Bilder des Fernsehens. Zum Fernsehen hatten sich die Leute in die Sicherheit ihrer Wohnungen zurückgezogen. Draußen ging manchmal eine einzelne verlorene Gestalt durch diese Kleinstadtdüsternis, Allerweltshausen anno 1897 , am Gehweg auf der linken Straßenseite die Häuserzeile entlang auf die Ecke Hanekampreihe und Gentzstraße zu, wo in einem noch nicht renovierten Gebäude im zweiten Stock der Boriéclub seine Zusammenkünfte abhielt, Freitagabend, ab einundzwanzig Uhr.
    Sprißler kam gegen zehn Uhr vor das Haus, läutete bei BC , der Summer brummte, Sprißler drückte die Türe auf und ging durch das früher einmal hochherrschaftliche Entree des inzwischen kaum noch bewohnten, auch kaum mehr beleuchteten Hauses die breit ausgetretene Haupttreppe nach oben, ganz hinauf in den zweiten Stock. Unten wirkte das Haus wie ein opulentes Metropolengebäude mit sechs Stockwerken, hörte dann aber oben schon nach der zweiten Etage urplötzlich auf. Die Wohnungstüre war angelehnt. »Eigentlich hasse ich sie alle«, dachte Sprißler, »aber es ist egal«, stieß auch diese Türe auf, ging hinein und wurde von dem dort wartenden Aktuar mit seiner Namensziffer begrüßt. »Legen Sie auch ab?« »Natürlich«, sagte Sprißler und gab seinen Mantel und den Schal an den Gefreiten weiter, der aus der Garderobe herausauf ihn zukam. Sprißler schaute in die daneben auf einem Pult ausliegende Liste, um zu sehen, wer schon in den Club gekommen war. Aus den inneren Zimmern, die vom Flurbereich abgingen, hörte man das Klirren der Getränkegläser und das Reden der Mitverschwörer. Gegenstand der Verschwörung war ganz formal, sinnlos, strikt und unkonkret: Klandestinität. Wissen, Spott, Hohn, Drohung. Die Leute sollten mit gesenkten Köpfen durch ihr Krölpa schleichen, aus Angst, wie früher. Sprißler zeigte sich in der Türe des einen Seitenzimmers, wo um Edschmid, Hatzfeld und Frobenius die Umfaller der ersten Stunde versammelt waren, grüßte, ging weiter zum anderen Zimmer, wo die Geächteten um Jaschel, Raabe und Bohrberg leise miteinander redeten und dabei ihre Oberkörper unnatürlich nahe aneinanderhielten, grüßte auch dort hinein und ging dann in den mittleren Salon, wo in den Sesseln beim Kamin die wichtigen Leute um Schomburgk herum saßen, Zigarren rauchten und sich unterhielten. »Ich bin ein Mensch, der die Welt bereist hat«, sagte der alte Plessen und drehte seinen Kopf in richtung von Sprißler, dann wieder zurück in die Runde, »um das Heimweh kennenzulernen.« »Und?« »Nichts, das Fernweh war Jugend, das hatte Sinn, dann ging man auf Reisen, natürlich war das richtig, aber die Fremde macht den Reisenden hart, es war interessant, das zu erleben, wie man auskühlt, flach wird, zynisch und banal. Und mit der Heimkehr, die es nicht gibt, es gibt keine Heimkehr, setzt schon Altersdummheit ein, die gibt es, die ist weit verbreitet.« Plessen redete leise und freute sich an seinem Grimm. Nach einem Moment der Stille sagte Ritter: »Auch die Aufrichtigkeit verliert mit der Zeit ihr Geheimnis.« Damit war nicht Plessens offiziershafter Desillusionismus, sondern der Furor der Frühe gemeint. Aber wo soll die Sehnsucht, Wahrheit zu suchen, herkommen, wenn die Jugend weg ist? Ritter brachte als Beispieleine Geschichte von Stendhal, der im Museum die jungen Männer mit dem furios verstörten Blick beim Urteilen beobachtet, das war also auch möglich, Bewunderung für diese Art juveniler Skepsis, antidesillusionistisch im Resultat. Mahnteufel wollte allem zustimmen: »Wir sind von Kindheit an, was wir sind, so schon Marx, Frühschriften, glaube ich.« Schomburgk lachte auf, und die restliche Runde lachte daraufhin mit ihm mit. Der Kellner brachte Sprißler, der immer noch in der Türe stand, mit einem »bittesehr!« den bestellten ultraalt gemälzten Rohfasswhiskey der Marke Perrestgore Dew, Sprißler nahm einen Schluck, nickte dem Kellner anerkennend zu, grüßte nun auch die Leute am Kamin und setzte sich in einen Sessel etwas abseits, von wo aus er ins brennende Feuer schaute.
    »Angenehm«, dachte Sprißler und schmeckte dem Whiskey hinterher. Er war da. Er war sichtbar, er hörte zu und schaute zu. Er sagte wenig, aber nicht nichts, war ansprechbar und zugänglich, auch wenn sein Gesicht immer etwas missmutig Hocherhobenes, Zurückweisendes spüren ließ. Sprißler war hager und fahl, aber kein Asket, das Fahle der Haut kam vom Rauchen, vom Nikotin, von den schwarzen, scharf gescheitelten

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