Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
den Reichtum seiner inneren Vieldimensionalität kaum bändigen kann, aber in Wirklichkeit war er gar kein echter Multitasker, im Gegenteil. Holtrop war Hektiker, permanent von der Vielzahl und Gleichzeitigkeit seiner Aktivitäten überfordert, überlastet, fahrig stolperte er der jeweils neuesten, letztgestarteten Aktivität, den Blick schon auf die übernächste gerichtet, hinterher, und die meisten angefangenen Dinge blieben einfach nicht zuende gebracht irgendwo um ihn herum liegen. Diese strukturelle Schlampigkeit von Holtrops Arbeitsweise hatte sich mit den Jahren, und speziell mit dem fulminanten Aufstieg die Karriereleiter hoch nach oben, immer mehr verstärkt, verschlechtert und verschlimmert, zuletzt hatte Holtrop als CEO einen Stab von fünfzehn Leuten unter sich, die alle nichts anderes machten, als hinter ihm her aufzuräumen, die von ihm ungehemmt wirr angestoßenen Initiativen zu verfolgen, zu sortieren, abzuschließen oder abzubrechen, und anstatt an sich selbst zu arbeiten und seine Geistesverschlampung zu bekämpfen, hatte Holtrop sich, natürlich wieder auf die selbstverständlichste Art, ganz das von seiner Hektik hervorgerufene Außenbild zu eigen gemacht, und so sah er sich selbst als Anreger, Kreativkraftwerk, Genie der unkonventionellen Impulse, nicht als den verkommenen Schlamper, der er in Wirklichkeit eben auch war.
Zwischen Magnussen und seiner noch nicht zuende geschriebenen Mail blickte Holtrop verärgert hin und her, suchte dabei vergeblich nach dem Gedanken, der ihn eben zuvor, keine zwanzig Sekunden war das her, so euphorisiert hatte: weg. Irritation, ein Störgeräusch kam von den am Fenster stehenden Chinesen, die sich voneinander wegdrehten und sich auf Holtrop und Magnussen hin orientierten, zum Tisch zurückkamen, um die Verhandlungen fortzusetzen, Holtrop grinste forciert den Chinesen entgegen, um sich bereit zu zeigen weiterzuverhandeln, gerade weil er es überhaupt nicht war, und tatsächlich war ihm in diesem Moment gar nicht gegenwärtig, worüber er mit den beiden Chinesen am Verhandeln war. Holtrop sprang hoch, gab einen als Erklärung gedachten unverständlichen Ton von sich und verließ das Zimmer. Draußen schaute er, der Kopf drehte sich dabei ruckhaft nach rechts und links, den Gang in beide Richtungen, ohne ein Zeichen für die von ihm gesuchte Toilette zu finden. »Komisch«, dachte Holtrop, drehte sich wieder um, machte die Türe zum Verhandlungszimmer auf und schaute nach Magnussen, der in der Ecke von eben zuvor stand und weiter am Telefonieren war. Von den Chinesen unbeachtet, von der Übersetzerin nicht einmal ignoriert, machte Holtrop vier heftige, zornerfüllte Schritte auf Magnussen zu. Der hörte ihn, reagierte, drehte sich langsam um zu Holtrop und lächelte dabei, ohne sein Telefonat zu beenden. Diese selbstbewusst vorgetragene Unverschämtheit löste in Holtrops überspanntem Hirn eine anfallsartige Verkrampfung aus, Atemnot, Schnappen nach Luft, Starre, »im nächsten Moment«, dachte Magnussen, »läuft ihm der blutige Schaum aus dem Mund«. Holtrop atmete ein, atmete nocheinmal ein, um gleich etwas zu sagen, es kam aber kein Laut ausihm heraus, während quäkend der Redeschwall aus Magnussens Handy unverständliche, aber hörbar gutgelaunte, eventuell nichtdeutsche Worte herausquäkte. »Was, äh, wo?«, sagte Holtrop. »Bitte?« Magnussen zeigte auf sein Telefon. Holtrop: »Suche Klo!« Magnussen nickte und ging vor, draußen wies er nach links oben, wo am Ende des Gangs ein Klopiktogramm zu sehen war, »dort links die erste Türe«, sagte Magnussen, und Holtrop ging los. Schon nach wenigen Schritten war alles wieder ganz normal, Kreislauf, Wetter, Blutdruck, Luftdruck, »Asien ist die Hölle«, dachte Holtrop in der Toilette, wo die Musik leise dudelte und die Luft nach einer Mischung aus Lilienblüte und Durchfall roch, und nahm zwei frische Tabletten Tradon, ohne das Wasser, das aus dem Hahn vor ihm tröpfelte, hinterherzutrinken. »Ich kaufe den ganzen scheiß Laden«, dachte Holtrop von Ekel erfüllt, »dann eben für ein halbe Milliarde.«
Von dieser neuen Verhandlungsstrategie wieder in den Status quo ante zurückeuphorisiert, betrat Holtrop, als bekennender und alle Inkohärenzen sinnlos bejahender Imbeziler sozusagen, den muffigen Verhandlungsraum und klopfte auf den Tisch. »Kommen Sie, kommen Sie«, rief er, dabei grinste er die Übersetzerin und die Chinesen an, »wir machen Geschäft!«, sagte er auf Englisch, »übersetzen Sie, los!«
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