John Corey 03 - Nachtflug
»Hierher hat man auch die Toten gebracht, bevor sie ins Leichenschauhaus kamen.« Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Ich habe hier ab und zu gearbeitet, zwei Monate lang. Ich habe in einem Motel in der Nähe gewohnt.«
Ich erwiderte nichts, dachte aber darüber nach. Ich kannte ein paar Männer und Frauen vom NYPD, die wochen- und monatelang Tag und Nacht an diesem Fall gearbeitet hatten, aus ihren Koffern lebten, Alpträume wegen der Leichen hatten und in der hiesigen Kneipe zu viel tranken. Niemand, so sagte man mir, hatte diesen Fall unbeschadet überstanden. Ich schaute zu Kate.
Sie blickte mich auch an und wandte sich gleich wieder ab. Sie sagte: »Die Leichen ... Leichenteile ... Kinderspielzeug, Kuscheltiere, Puppen, Koffer, Rucksäcke ... viele junge Leute, die zu einem Sommerseminar nach Paris wollten. Ein Mädchen hatte Geld in ihre Socke gestopft. Eines der Rettungsboote hatte ein Schmuckkästchen aufgefischt, in dem sich ein Verlobungsring befand. Irgendjemand wollte sich in Paris verloben ...«
Ich legte den Arm um Kate, und sie schmiegte den Kopf an meine Schulter. Wir standen eine Weile da und schauten hinaus auf die Bucht. Sie ist eine taffe Frau, aber selbst taffe Menschen sind manchmal aufgewühlt.
Sie richtete sich auf, und ich ließ sie los. Sie ging in Richtung Kai und sprach dabei. »Als ich hierherkam, am Tag nach dem Absturz, sollte diese Station geschlossen werden, und sie wurde schon eine ganze Weile nicht mehr instand gehalten. Das Gras reichte mir bis zur Taille. Binnen weniger Tage war hier alles voll, Kleinbusse, Fernmeldewagen, Spurensicherungswagen, Ambulanzen, ein großes Rotkreuz-Zelt, das da drüben stand, Lkw, mobile Pathologien ... wir hatten transportable Duschen, um die ... die Giftstoffe abzuwaschen ... Etwa eine Woche später hat man draußen auf dem Rasen zwei geteerte Hubschrauberlandeplätze angelegt. Es war eine gute Reaktion. Eine hervorragende Reaktion. Ich war richtig stolz darauf, mit diesen Leuten zu arbeiten. Der Küstenwache, dem NYPD, der Orts- und Staatspolizei, dem Roten Kreuz und vielen einheimischen Fischern und Bootsbesitzern, die Tag und Nacht gearbeitet und Leichen und Trümmer gesucht haben ... es war erstaunlich, wirklich.« Sie schaute mich an und sagte: »Wir sind ein tüchtiges Volk. Weißt du? Wir sind selbstsüchtig, egozentrisch und verwöhnt. Aber wenn die Kacke am Dampfen ist, laufen wir zu Bestform auf.«
Ich nickte.
Wir kamen zum Ende des Kais, und Kate deutete nach Westen, dorthin, wo an diesem Abend vor fünf Jahren TWA-Flug 800 über dem Ozean explodiert war. Sie sagte: »Wenn es ein Unglück war, dann war es ein Unglück, und die Leute von Boeing, der nationalen Verkehrssicherheitskommission und alle anderen, die für Flugsicherheit zuständig sind, können den Fehler abstellen, und vielleicht muss sich dann niemand mehr den Kopf darüber zerbrechen, dass mitten im Flug der Haupttank explodieren könnte.« Sie holte tief Luft und fügte hinzu: »Aber wenn es Mord war, dann müssen wir das wissen, bevor wir dafür sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.«
Ich dachte einen Moment lang nach, dann erwiderte ich: »Ich habe Mörder gesucht, als so gut wie keiner dachte, dass ein Mord begangen worden war.«
»Glück gehabt?“
»Einmal. Manches ergibt sich erst Jahre später. Man rollt den Fall wieder auf.« Ich fragte sie: »Hast du irgendwas?«
»Vielleicht.« Und sie fügte hinzu: »Ich habe dich.«
Ich lächelte. »Ich bin nicht so gut.«
»Das Gute an dir ist, dass du diese Sache unvoreingenommen, mit frischem Blick und klarem Kopf untersuchen kannst. Wir alle waren anderthalb Jahre lang damit beschäftigt, bis er abgeschlossen wurde, und ich glaube, wir waren überwältigt vom Ausmaß dieser Tragödie und von dem ganzen Papierkrieg - den Berichten der Spurensicherung, den widersprüchlichen Theorien, dem Kompetenzgerangel, dem Druck von außen und dem Medienirrsinn. Es gibt bestimmt einen einfacheren Weg, eine Art Abkürzung durch diesen ganzen Mist. Jemand muss ihn finden.«
Tatsache ist, dass ich die meisten Fälle mittels Routine, mühseliger Polizeiarbeit, aufgrund von kriminaltechnischen Berichten und dergleichen mehr gelöst habe. Aber ab und an hatte es auch etwas mit Glück zu tun, wenn man den goldenen Schlüssel entdeckte, der einem den kürzesten Weg durch den ganzen Mist erschloss. Das kommt vor, aber nicht in so einem Fall.
Kate wandte sich vom Wasser ab und blickte wieder zu dem weißen
Weitere Kostenlose Bücher