John Grisham
Publikum, das aus einem Dutzend Angestellten des Gerichts bestand, noch einmal ganz genau, wie das Mittagessen damals verlaufen war. Die Tatsache, dass sie in San Francisco gewesen und über die Golden Gate Bridge gefahren war, machte aus ihr etwas Besonderes. Die Urlaubsfotos hatten die anderen schon gesehen, und das mehr als einmal.
»Ich habe gehört, dass er schon hier ist«, sagte eine Mitarbeiterin.
»Wie lange hat er noch?«
Myra wusste es nicht. Seit dem Mittagessen vor fünf Jahren hatte sie keinen Kontakt mehr zu Adrian gehabt, und es war klar, dass sie jetzt keinen mehr wollte.
Die erste Sichtung wurde Minuten später bestätigt, als ein Mr. Rutledge das Friseurgeschäft betrat, um sich wie jede Woche die Haare nachschneiden zu lassen. Sein Neffe verteilte jeden Morgen bei Sonnenaufgang die Tageszeitung aus Tupelo, und jedes Haus in der Innenstadt von Clanton bekam eine. Der Neffe hatte die Gerüchte gehört und Ausschau gehalten. Er war langsam mit seinem Rad die Harrison Street hinuntergefahren und noch langsamer geworden, als er am Haus des alten Keane vorbeigekommen war. Und tatsächlich, an eben jenem Morgen, es war noch keine zwei Stunden her, hatte er einen Fremden gesehen, den er so bald nicht wieder vergessen würde.
Mr. Rutl edge beschrieb die Begegnung. »Joey sagte, er habe noch nie einen Mann getroffen, der so krank ausgesehen hätte, bleich wie ein Toter, mit Flecken auf dem Arm, eingefallenen Wangen, dünnem Haar. Es war, als hätte er einen Ka daver vor sich gehabt.« Mr. Rutl edge erzählte nur selten etwas weiter, ohne es vorher gebührend ausgeschmückt zu haben, was die anderen wussten. Aber sie hörten ihm aufmerksam zu. Niemand wagte es, infrage zu stellen, ob Joey, ein Dreizehnjähriger von sehr schlichtem Gemüt, ein Wort wie »Kadaver« benutzen würde.
»Was hat er gesagt?«
»Joey sagte: >Guten Morgen<, und der Mann sagte: >Guten Morgen.< Dann hat Joey ihm die Zeitung gegeben, aber er hat aufgepasst, dass er ihm dabei nicht zu nahe kommt.«
»Kluger Junge.«
»Dann hat er sich auf sein Rad gesetzt und ist ganz schnell davongefahren. Man steckt sich doch nicht an, wenn man die gleiche Luft atmet, oder?«
Niemand wagte es, eine Vermutung anzustellen.
Um 8.30 Uhr hatte Dell von der Sichtung gehört, und die ersten Spekulationen über Joeys Gesundheit wurden angestellt. Um 8.45 Uhr schwatzten Myra und die Mitarbeiter der Geschäftsstelle am Gericht angeregt über die geisterhafte Gestalt, die vor dem Haus des alten Keane den Zeitungsjungen verschreckt hatte.
Eine Stunde später rollte ein Streifenwagen durch die Harrison Street, in dem zwei Polizeibeamte saßen, die sich fast den Hals verrenkten bei dem Versuch, einen Blick auf den Geist zu erhaschen. Und bis Mittag wussten alle Einwohner von Clanton, dass sie einen Mann in ihrer Mitte hatten, der an AIDS starb.
Das Geschäft wurde nach sehr kurzen Verhandlungen abgeschlossen. Langwieriges Feilschen wäre unter diesen Umständen sinnlos gewesen. Die Parteien waren einander nicht ebenbürtig, und daher war es auch keine Überraschung, dass die Weiße genau das bekam, was sie wollte.
Die Weiße war Leona Keane, Tante Leona für einige, Leona die Löwin für alle anderen, die uralte Matriarchin einer Familie, die sich schon lange auf dem absteigenden Ast befand. Die Schwarze war Miss Emporia, eine von lediglich zwei unverheirateten schwarzen Frauen in Lowtown. Auch Emporia befand sich bereits in fortgeschrittenem Alter, sie war etwa fünfündsiebzig, jedenfalls glaubte sie das, allerdings existierte keine Geburtsurkunde. Das Haus, das Emporia schon seit ewigen Zeiten gemietet hatte, gehörte der Familie Keane, was auch der Grund dafür war, dass man sich so schnell handelseinig wurde.
Emporia pflegte den Neffen und bekam dafür nach dessen Tod das Grundstück übertragen. Das kleine rosafarbene Haus in der Roosevelt Street würde ihr gehören, frei von Lasten. Die Grundstücksübertragung hatte nur wenig Bedeutung für die Familie Keane, da sie Isaacs Vermögen schon seit vielen Jahren dezimiert hatte. Doch für Emporia bedeutete die Übertragung alles. Der Gedanke daran, dass ihr geliebtes Heim bald ihr gehören würde, wog weitaus schwerer als ihre Bedenken, einen sterbenden weißen Jungen zu pflegen.
Da Tante Leona lieber tot umgefallen wäre, als sich auf der anderen Seite der Eisenbahnschienen blicken zu lassen, wies sie ihren Gärtner an, den Jungen hinüberzufahren und an seiner letzten Adresse abzuliefern. Als
Weitere Kostenlose Bücher