John Grisham
Sie, Wade, gehen Sie nach Hause. Morgen gehen Sie dann wie immer in die Kanzlei und suchen sich ein paar andere kleine Leute, die Sie fertigmachen können. Bis Michael stirbt, herrscht zwischen Ihnen und mir Waffenstillstand.«
»Und dann?«
Cranwell lächelte nur und hielt Stanley die Waffe unter die Nase. »Gehen Sie, Wade. Machen Sie die Tür auf, steigen Sie aus, und lassen Sie uns in Ruhe.«
Stanley zögerte kurz, doch dann stieg er aus und entfernte sich von dem Pick-up. Er bog um die Ecke, fand im Dunkeln einen Gehsteig und sah plötzlich die Leuchtreklame des Rite Price vor sich. Um ein Haar wäre er losgerannt, doch hinter sich hörte er nichts mehr. Er sah sich um. Cranwell war nicht mehr da.
Während Stanley zu seinem Wagen lief, überlegte er, was er seiner Frau erzählen sollte. Er kam drei Stunden zu spät zum Abendessen und brauchte eine Erklärung.
Und er war sicher, dass es eine Lüge sein würde.
Alte F reunde
DAS QUIET HAVEN RETIREMENT HOME liegt ein paar Kilometer außerhalb der Stadtgrenze von Clanton, ein wenig abseits der Ausfallstraße nach Norden, in einem schattigen Tal versteckt, so dass es für den Durchgangsverkehr nicht einsehbar ist. Heime in der Nähe von Hauptverkehrsadern bergen beträchtliche Gefahren. Das weiß ich aus Erfahrung, weil ich in Heaven's Gate bei Vicksburg beschäftigt war, als Mr. Albert Watson abhandenkam und auf einer vierspurigen Straße von einem Tanklastwagen überfahren wurde. Er war vierundneunzig und einer meiner Lieblingspfleglinge gewesen. Zu seiner Beerdigung ging ich noch. Als der Prozess begann, war ich nicht mehr da. Diese Patienten irren oft ziellos umher. Manche versuchen auch zu entwischen, was jedoch aussichtslos ist. An ihrer Stelle würde ich es allerdings genauso machen.
Der erste Blick auf Quiet Haven zeigt mir einen roten Backsteinbau aus den sechziger Jahren mit Flachdach, ein heruntergekommenes Gebäude mit mehreren Flügeln und dem Charme eines aufgemotzten kleinen Gefängnisses, in dem Menschen ihre letzten Tage verleben, ohne anderen zur Last zu fallen. Früher hießen diese Einrichtungen generell Pflegeheim, aber heutzutage verwendet man vornehmere Bezeichnungen wie Seniorenheim, Seniorenresidenz oder Zentrum für betreutes Wohnen und was es noch so an Beschönigungen gibt.
»Oma lebt in einer Seniorenresidenz« klingt auch viel zivilisierter als »Wir haben sie ins Pflegeheim abgeschoben«. Für Oma ändert das gar nichts, es hört sich nur besser an, zumindest für alle außer Oma.
Wie man sie auch nennt, deprimierend sind sie alle. Trotzdem - sie sind mein Revier, meine Mission, und jedes Mal, wenn ich neu in eine Einrichtung komme, freue ich mich auf die Herausforderung.
Ich stelle meinen uralten verbeulten VW Käfer auf dem kleinen Parkplatz vor dem Haus ab, der ansonsten leer ist. Dann rücke ich meine schwarze Fünfziger-Jahre-Brille zurecht, zupfe an meinem dicken Krawattenknoten - ein Sakko trage ich nicht - und steige aus. Unter dem Wellblechdach der Veranda am Eingang sitzt ein halbes Dutzend meiner neuen Freunde in großen Schaukelstühlen aus Korbgeflecht und starrt ins Leere. Ich grüße lächelnd und nicke ihnen zu, aber nur einige wenige sind in der Lage, darauf zu reagieren. Drinnen schlägt mir der schwere, faulige Desinfektionsmittelgeruch entgegen, der in jedem dieser Heime durch Gänge und Wände wabert. Ich melde mich am Empfang bei einer stämmigen jungen Frau in einer nachgemachten Schwesternuniform, die hinter der Theke so mit Papierkram beschäftigt ist, dass sie mich kaum zur Kenntnis nimmt.
»Ich habe um zehn einen Termin bei Mrs. Wilma Drell«, sage ich unterwürfig.
Sie mustert mich missbilligend und spart sich das Lächeln. »Ihr Name?«
Dem billigen Plastikschild über ihrer ausladenden linken Brust entnehme ich, dass sie selbst Trudy heißt, und Trudy ist gefährlich dicht dran, der erste Name auf meiner brandneuen schwarzen Liste zu werden.
»Gilbert Griffin«, erwidere ich höflich. »Zehn Uhr.«
»Nehmen Sie Platz.« Sie deutet mit dem Kopf auf eine Reihe Plastikstühle in der offenen Eingangshalle.
»Danke«, antworte ich und setze mich wie ein nervöser Zehnjähriger auf einen Stuhl. Ich starre auf meine Füße, die in alten weißen Turnschuhe und schwarzen Socken stecken. Meine Hose ist aus Polyester. Mein Gürtel ist zu lang für meine Taille. Kurz gesagt, ich bin bescheiden, kann mich nicht durchsetzen, stehe ganz am Ende der Nahrungskette.
Trudy wendet sich wieder der Sortierung
Weitere Kostenlose Bücher