John Grisham
ihrer Papierstapel zu. Von Zeit zu Zeit klingelt das Telefon, und mit den Anrufern geht sie einigermaßen höflich um. Zehn Minuten, nachdem ich - zur verabredeten Zeit - eingetroffen bin, rauscht Mrs. Wilma Drell aus dem Gang in die Lobby und stellt sich vor. Sie trägt ebenfalls eine weiße Uniform, sogar mit weißen Strümpfen und weißen Schuhen mit dicker Sohle, die es nicht leicht haben, weil Wilma noch schwergewichtiger ist als Trudy.
Ich stehe auf und sage etwas verschreckt: »Gilbert Griffin.«
»Wilma Drell.« Wir schütteln uns die Hand, weil uns nichts anderes übrigbleibt, dann macht sie auf dem Absatz kehrt und marschiert in die entgegengesetzte Richtung, wobei die dicken weißen Strümpfe gegeneinanderreiben und ein Geräusch erzeugen, das noch aus einiger Entfernung zu hören ist. Ich laufe ihr nach wie ein verängstigter Welpe, und als wir um die Ecke biegen, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Trudy mir einen Blick abgrundtiefer Verachtung nachwirft. In diesem Augenblick landet sie ganz oben auf meiner Liste.
Ich bin davon überzeugt, dass Wilma Drell Nummer zwei werden wird, mit guten Chancen auf den ersten Platz.
Wir quetschen uns in ein kleines Büro mit behördengrau gestrichenen Wänden aus Betonformsteinen, einem billigen Metallschreibtisch und einem Sideboard, das von Automatenfotos ihrer stämmigen Kinder und ihres hageren Gatten geschmückt wird. Sie lässt sich hinter dem Schreibtisch auf einem drehbaren Chefsessel nieder, als wäre sie die Geschäftsführerin dieses aufstrebenden, blühenden Unternehmens. Ich sinke auf einen wackligen Stuhl, der mindestens dreißig Zentimeter niedriger ist als der Drehsessel. Ich sehe zu ihr auf. Sie blickt auf mich herab.
»Sie haben sich um eine Stelle beworben«, sagt sie und greift nach der Bewerbung, die ich ihr vergangene Woche geschickt habe.
»Ja.« Warum sollte ich sonst hier sein?
»Als Pfleger. Wie ich sehe, haben Sie Erfahrung mit Altersheimen.«
»Ja, das stimmt.« In meiner Bewerbung habe ich drei andere Einrichtungen aufgeführt. Von allen dreien habe ich mich einvernehmlich getrennt. Es gibt allerdings ein Dutzend andere, die ich niemals erwähnen würde. Falls sie meine Referenzen nachprüft, wird alles wie geschmiert laufen. Normalerweise wird jedoch nur ein halbherziger Versuch mit ein paar Telefonaten unternommen. Pflegeheime haben kein Problem damit, Diebe, Kinderschänder oder sogar Leute mit meiner schwierigen Vergangenheit einzustellen.
»Wir brauchen einen Pfleger für die Nachtschicht, von einundzwanzig Uhr bis sieben Uhr morgens, vier Tage pro Woche. Sie müssten die Gänge überwachen, sich um die Patienten kümmern und allgemeine Pflegeaufgaben übernehmen.«
»Das ist mein Job«, erwidere ich. Und die Patienten zur Toilette bringen, hinter ihnen aufwischen, wenn etwas danebengegangen ist, sie baden, umziehen, ihnen vorlesen, ihre Lebensgeschichte anhören, für sie Briefe schreiben und Geburtstagskarten kaufen, mich mit ihren Familien herumschlagen, Streitigkeiten schlichten, Bettpfannen unterschieben und ausleeren. Ich kenne die Routine.
»Arbeiten Sie gern mit Menschen?«, fragt sie, dieselbe dumme Frage, die immer gestellt wird. Als wären alle Menschen gleich. Die Patienten sind normalerweise entzückend. Auf meiner schwarzen Liste landen vor allem die Kollegen.
»O ja«, sage ich.
»Sie sind ...«
»Vierunddreißig.« Kann die Frau nicht rechnen? Unter Punkt drei der Bewerbung wird das Geburtsdatum abgefragt.
Was will ein Vierunddreißigjä hriger mit diesem miesen Job?, meint sie eigentlich. Aber das trauen sich diese Leute nie zu fragen.
»Wir zahlen sechs Dollar die Stunde.«
Das stand in der Anzeige. Sie sagt es, als wäre es ein Geschenk. Der aktuelle Mindestlohn beträgt 5,15 Dollar. Quiet Haven gehört einer Firma mit dem nichtssagenden Namen »HVQH Group«, die ihren Sitz in Florida hat und für ihr zwielichtiges Geschäftsgebaren bekannt ist. HVQH betreibt etwa dreißig Altersheime in einem Dutzend Bundesstaaten und hat eine schillernde Vergangenheit: Missbrauch von Pflegepatienten, Gerichtsverfahren, miserable Betreuung, Diskriminierung der Mitarbeiter und Steuerunregelmäßigkeiten. Diese Widrigkeiten haben den Konzern jedoch nicht daran gehindert, sich eine goldene Nase zu verdienen.
»Das geht in Ordnung«, sage ich. So schlecht ist es gar nicht. Firmen, die solche Ketten betreiben, lassen ihre Bettpfannenträger meist mit dem Mindestlohn anfangen. Außerdem bin ich nicht des Geldes wegen
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