John Grisham
Wohnzimmer ihrer Erdgeschosswohnung, und bevor ich antworten konnte, hatte sie schon Kurs auf die Hausbar genommen. Sie goss ein paar Fingerbreit Jim Beam in zwei Trinkgläser, füllte mit Soda auf, und wir stießen an.
»Ein Highball zum Frühstück ist die beste Art, den Tag zu beginnen«, befand sie und gönnte sich einen Schluck. Es war neun Uhr morgens.
Sie zündete sich eine Marlboro an, und wir verlegten unseren Standort auf die Veranda vor dem Haus. Miss Ruby lebte allein, und mir wurde schnell klar, wie einsam sie war. Sie brauchte einfach jemanden zum Reden. Ich trinke selten Alkohol, nie Bourbon, und nach ein paar Schlucken war meine Zunge taub. Falls der Whiskey irgendeine Wirkung auf Miss Ruby hatte, war nichts davon zu merken, denn sie redete wie ein Buch über Bürger von Clanton, denen ich nie begegnen würde. Nach einer halben Stunde ließ sie die Eiswürfel in ihrem Glas klirren und erkundigte sich, ob ich noch einen Jimmy wollte. Ich lehnte dankend ab und ging bald darauf.
Die Einführung übernimmt Schwester Nancy, eine nette alte Frau, die seit dreißig Jahren dabei ist. Mit mir im Schlepptau geht sie im Nordflügel von Tür zu Tür und bleibt in jedem Zimmer stehen, damit wir die Bewohner begrüßen können. Meist sind es zwei. Ich kenne alle diese Gesichter von früher: die strahlenden, die sich freuen, jemand Neues kennenzulernen, die traurigen, denen alles egal ist, die verbitterten, die sich mühsam durch einen einsamen Tag nach dem anderen kämpfen, die ausdruckslosen, die sich bereits aus dieser Welt verabschiedet haben. Im Südflügel sieht es genauso aus. Nur der rückwärtige Flügel ist anders. Er wird von einer Metalltür gesichert, die Schwester Nancy mit einem vierstelligen Code öffnet, den sie an der Wand eingibt.
»Hier sind die schwierigeren Fälle«, sagt sie leise. »Ein paar Alzheimer-Patienten, ein paar Verrückte. Wirklich traurig.«
Es gibt zehn Zimmer mit jeweils einem Bewohner. Meine Vorstellung bei den zehn Insassen verläuft ohne Zwischenfall. Ich folge Schwester Nancy in die Küche, die winzige Apotheke, die Cafeteria, den Ort der Mahlzeiten und geselligen Zusammenkünfte. Alles in allem ist Quiet Haven ein typisches Pflegeheim, einigermaßen sauber und effizient. Die Patienten sehen so zufrieden aus, wie man das erwarten kann.
Später werde ich mir den Terminkalender des Gerichts daraufhin ansehen, ob das Heim schon einmal wegen Misshandlung oder Vernachlässigung verklagt worden ist. Bei der Behörde in Jackson werde ich nachfragen, ob Strafanzeige gestellt wurde und Ladungen erfolgt sind. Ich habe einiges zu überprüfen, die übliche Routine.
Vorn am Empfang erklärt mir Schwester Nancy gerade die Besuchsregelung, als ich von einer Hupe aufgeschreckt werde.
»Vorsicht«, warnt sie und tritt einen Schritt näher an die Theke heran. Aus dem Nordflügel nähert sich mit beeindruckender Geschwindigkeit ein Rollstuhl. Darin sitzt ein alter Mann, noch im Schlafanzug, der uns mit einer Hand zur Seite scheucht und mit der anderen eine Fahrradhupe betätigt, die direkt über dem rechten Rad montiert ist. Er wird von einem Irren in schmutzigen weißen Socken ohne Schuhe geschoben, der nicht älter als sechzig wirkt und dessen enormer Bauch unter seinem T-Shirt heraushängt.
»Langsam, Walter!«, brüllt Schwester Nancy, als die beiden vorbeirasen, ohne uns zu beachten. Sie verschwinden im Südflügel, wo sich die anderen Patienten eilig in ihren Zimmern in Sicherheit bringen.
»Walter liebt seinen Rollstuhl«, erklärt sie mir.
»Wer schiebt ihn?«
»Donny Ray. Die beiden fahren jeden Tag bestimmt fünfzehn Kilometer weit durch die Gänge. Letzte Woche hatten sie einen Zusammenstoß mit Pearl Dunavant und hätten ihr fast das Bein gebrochen. Walter behauptet, er hat vergessen zu hupen. Wir schlagen uns immer noch mit ihrer Familie herum. Eine hässliche Sache, aber Mrs. Dunavant genießt die Aufmerksamkeit in vollen Zügen.«
Die Hupe ertönt erneut, und ich sehe, wie die beiden am hinteren Ende des Südflügels kehrtmachen und wieder auf uns Kurs nehmen. Sie donnern vorbei. Walter, der sich offenbar bestens amüsiert, wird fünfundachtzig sein, vielleicht ein Jahr jünger oder älter. Dank meiner Erfahrung hege ich mit meiner Schätzung selten mehr als drei Jahre daneben, auch wenn ich mich bei Miss Ruby geschlagen geben muss. Er hat den Kopf gesenkt und die Augen zusammengekniffen, als wäre er mit hundertfünfzig unterwegs. Donny Rays Blick ist genauso irr,
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