John Grisham
im Büro war. Er telefonierte jeden Tag stundenlang und hasste es, nach der Arbeit angerufen zu werden. Es war eher unwahrscheinlich, dass sie sich Sorgen machte. Zweimal im Monat wurde es schon einmal etwas später, wenn er mit seinen Freunden im Country Club etwas trinken ging, doch seine Frau störte das nicht im Geringsten. Nachdem die Kinder ausgezogen waren, um aufs College zu gehen, hatten Stanley und seine Frau es sich schnell abgewöhnt, strikt nach der Uhr zu leben. Eine Stunde zu spät - nie zu früh - zu kommen war völlig in Ordnung.
Während das Bett klapperte und die Cranwells sich um Michael kümmerten, kam Stanley daher zu dem Schluss, dass nur eine sehr geringe Chance darauf bestand, dass ein Trupp Polizisten die Nebenstraßen nach ihm absuchte. Hatte vielleicht jemand gesehen, wie er auf dem Parkplatz des Rite Price entführt worden war, und dann die Polizei gerufen, die sich jetzt im Alarmzustand befand? Möglich, doch hier würden ihn selbst tausend Polizisten mit Bluthunden nicht finden.
Er dachte an sein Testament. Es war auf dem Laufenden, dank eines Partners in der Kanzlei. Er dachte an seine zwei Kinder, hielt es aber nicht lange aus. Dann dachte er an das Ende und hoffte, dass es schnell und schmerzlos gehen würde. Er widerstand der Versuchung, darüber nachzudenken, ob das Ganze ein Traum war oder nicht, weil es sowieso Energieverschwendung gewesen wäre.
Das Bett machte keinen Lärm mehr. Cranwell und Doyle traten ein paar Schritte zurück, während sich Becky über den Jungen beugte, leise summte und ihm den Mund abwischte.
»Setzen Sie sich auf«, brüllte Cranwell plötzlich. »Setzen Sie sich auf, und sehen Sie ihn an!«
Stanley tat, wie ihm befohlen wurde. Cranwell öffnete die untere Schublade des Aktenschranks und suchte etwas in seiner Dokumentensammlung. Becky setzte sich ohne ein Wort in ihren Sessel am Fußende des Betts, eine Hand auf Michaels Fuß.
Cranwell holte ein Dokument aus der Schublade, blätterte ein paar Seiten um, während alle warteten, und sagte dann: »Ich habe noch eine letzte Frage an Sie, Wade. Das ist der Schriftsatz, den Sie am obersten Gerichtshof von Mississippi eingereicht haben, ein Schriftsatz, in dem Sie wie ein Löwe darum gekämpft haben, dass das Urteil der Geschworenen zugunsten von Dr. Trane nicht aufgehoben wird. Im Nachhinein weiß ich gar nicht, warum Sie sich überhaupt Sorgen gemacht haben. Unserem Anwalt zufolge entscheidet das oberste Gericht in neunzig Prozent aller Fälle zugunsten der Ärzte. Deshalb haben Sie uns vor dem Prozess auch keinen fairen Vergleich angeboten, stimmt's? Sie haben sich keine Sorgen darüber gemacht, den Prozess zu verlieren, denn ein Urteil zugunsten von Michael wäre vom obersten Gericht sowieso wieder verworfen worden. Schlussendlich würden immer Trane und die Versicherungsgesellschaft gewinnen. Michael hatte ein Recht auf eine angemessene Entschädigung, aber Sie wussten, dass das System Sie nicht verlieren lassen würde. Jedenfalls haben Sie, Wade, auf der vorletzten Seite Ihres Schriftsatzes Folgendes geschrieben: >Der Prozess wurde fair, hart und mit wenig Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten geführt. Die Geschworenen waren aufmerksam, engagiert und neugierig und wurden umfassend informiert. Der Urteilsspruch erfolgte nach gründlicher Beratung. Der Urteilsspruch ist reine Gerechtigkeit, eine Entscheidung, auf die unser System stolz sein sollte. <«
Mit diesen Worten schleuderte Cranwell den Schriftsatz in Richtung Aktenschrank. »Und was ist passiert? Unser ehrwürdiger oberster Gerichtshof war einverstanden. Nichts für den armen kleinen Michael. Nichts als Entschädigung. Nichts als Strafe für unseren lieben Dr. Trane. Nichts.«
Er ging zum Bett und streichelte Michael. Dann drehte er sich um und starrte Stanley an. »Eine letzte Frage, Wade. Und Sie sollten besser gut nachdenken, bevor Sie antworten, denn Ihre Antwort könnte sehr wichtig sein. Sehen Sie sich diesen armen kleinen Jungen an, dieses hirngeschädigte Kind, dessen Behinderung man hätte verhindern können, und sagen Sie uns, ob das für Sie Gerechtigkeit oder nur ein weiterer Sieg im Gerichtssaal ist. Beides hat nämlich nur sehr wenig miteinander zu tun.«
Aller Augen lagen auf Stanley. Er saß in sich zusammengesunken auf dem unbequemen Stuhl und ließ die Schultern hängen, was seine von Natur aus schon schlechte Haltung noch schlimmer machte. Seine Hose war immer noch nass, und die schlammverschmierten Sohlen seiner
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