John Grisham
Nachmittag und Highballs früh am Morgen habe ich bereits erfahren, dass sie keine Kinder hat. Im Laufe der Jahre ist sie von mehreren Ehemännern sitzengelassen worden. Brüder, Schwestern, Cousins oder Cousinen, Nichten oder Neffen hat sie bisher nie erwähnt. Sie ist unglaublich einsam.
Und wie ich von Rozelle aus der Küche weiß, hat Miss Ruby bis vor etwa zwanzig Jahren das letzte noch verbliebene Bordell in Ford County geführt. Rozelle ist entsetzt zu hören, wo ich untergekommen bin. Sie denkt wohl, dort herrscht ein böser Geist.
»Das ist doch kein Ort für einen weißen Jungen«, findet sie. Rozelle geht mindestens viermal pro Woche zur Kirche. »Sieh zu, dass du da wegkommst. Satan sitzt in den Wänden.«
Satan hat jedoch nichts damit zu tun, als drei Stunden nach dem Abendessen - ich bin schon fast eingeschlafen - die Decke wackelt. Jemand strebt mit entschlossenen, regelmäßigen Lauten der baldigen Befriedigung entgegen. Ein klickendes Geräusch lässt mich vermuten, dass dabei ein billiges Bettgestell über den Boden rutscht. Dann folgt der tiefe Seufzer des siegreichen Helden. Stille. Der epische Akt ist vorüber.
Eine Stunde später klickt es wieder, das Bett hüpft erneut über den Boden. Diesmal muss der Hauptdarsteller größer oder grober sein, jedenfalls veranstalten die beiden mehr Lärm. Die Frau, wer auch immer sie sein mag, wird deutlich lauter, und eine beeindruckend lange Zeit höre ich mir mit großer Neugier und wach sender Erregung an, wie die beiden alle Hemmungen über Bord werfen und es treiben, ohne sich darum zu scheren, wer sie hören kann. Als es vorbei ist, brüllen sie geradezu, und ich bin versucht zu applaudieren. Dann kehrt oben Ruhe ein. Bei mir auch. Ich schlafe weiter.
Etwa eine Stunde später ist die emsige Dame über mir zum dritten Mal am Werk. Es ist Freitag, und mir fällt erst jetzt auf, dass es mein erster Freitag in der Wohnung ist. Weil ich so viele Überstunden angehäuft habe, hat Mrs. Wilma Drell mir die Nacht frei gegeben. Das passiert mir nicht noch einmal. Ich kann es nicht erwarten, Rozelle zu erzählen, dass Miss Ruby immer noch als Puffmutter aktiv ist und ihre alte Absteige als Haus der Sünde betreibt, in dem sich Satan bester Gesundheit erfreut.
Am späten Samstagvormittag gehe ich in die Stadt und erstehe in einem Coffeeshop am Platz Würstchen im Teigmantel. Die bringe ich Miss Ruby. Sie öffnet die Tür im Bademantel, ihr toupiertes Haar steht in alle Richtungen, ihre Augen sind rot und verschwollen. Bald sitzen wir an ihrem Küchentisch. Sie kocht Kaffee, ein fürchterliches Gebräu einer Marke, die sie sich per Post schicken lässt, und ich lehne mehrfach die Einladung zu einem Jim Beam ab.
»Gestern Nacht war es ganz schön laut«, sage ich.
»Was Sie nicht sagen.« Sie knabbert an einer Teigrolle.
»Wer wohnt in der Wohnung über mir? «
» Die steht leer.«
»Aber nicht letzte Nacht. Da hatte irgendwer Sex, und zwar ziemlich lauten.«
»Ach, das war Tammy. Nur eins von meinen Mädchen.«
»Wie viele Mädchen haben Sie denn?«
»Nicht viele. Früher waren es mehr.«
»Ich habe gehört, hier war früher ein Bordell.«
»O ja«, erwidert sie mit stolzem Lächeln. »Vor fünfzehn, zwanzig Jahren hatte ich ein Dutzend Mädchen, und die ganzen dicken Fische der Stadt waren bei uns Kunden: Politiker, Sheriff, Bankiers und Anwälte. Im dritten Stock wurde Poker gespielt. In den anderen Zimmern waren meine Mädchen beschäftigt. Das waren gute Jahre.« Sie lächelt in Richtung Wand, während ihre Gedanken zurück zu besseren Tagen wandern.
»Wie oft arbeitet Tammy jetzt?«
»Freitags, manchmal auch samstags. Ihr Mann ist Fernfahrer, der ist am Wochenende unterwegs, und sie braucht das Extrageld.«
»Wer sind die Kunden?«
»Sie hat verschiedene. Sie ist sehr umsichtig und wählerisch. Interessiert?«
»Nein. Nur neugierig. Muss ich jeden Freitag und Samstag mit diesem Krach rechnen?«
» Höchstwahrscheinlich.«
»Davon haben Sie mir aber nichts gesagt, als ich die Wohnung gemietet habe.«
»Sie haben ja nicht gefragt. Kommen Sie, Gill, das stört doch nicht. Wenn Sie wollen, lege ich bei Tammy ein gutes Wort für Sie ein. Ist ja nicht weit. Sie könnte sogar zu Ihnen aufs Zimmer kommen.«
»Was verlangt sie?«
»Das ist Verhandlungssache. Ich regle das für Sie. «
» Ich überlege es mir.«
Nach dreißig Tagen werde ich zu einer Leistungsbeurteilung ins Büro von Mrs. Drell gebeten. In Großunternehmen ist das so
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