John Medina - 02 - Gefaehrliche Begegnung
die Treppe hinunter.
»Niema!«, rief sie entzückt. »Wie schön, dich endlich wiederzusehen!«
Das musste Botschafter Theriots Frau Eleanor sein, die alte Freundin der Familie. Der Chauffeur öffnete den Wagenschlag, und Niema stieg aus, trat auf Mrs. Theriot zu und umarmte sie herzlich.
»Du siehst erschöpft aus«, sagte diese und tätschelte ihr mütterlich die Wange. »Jet-Lag ist schon was Schlimmes, nicht? Ich habe gehört, dass es am schlimmsten ist, wenn man nach Westen fliegt – oder war das nach Osten? Ich kann’s mir nie merken, aber es ist ja auch egal, denn ich leide immer unter Jet-Lag, egal, in welche Richtung ich fliege.«
Niema merkte, dass Mrs. Theriot ihr mit ihrem Geplapper Zeit geben wollte, sich ein wenig zu akklimatisieren. Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ja, müde bin ich schon, aber ich will meine Zeit hier gewiss nicht mit Rumliegen und Faulenzen vergeuden.«
»Keine Sorge, Liebchen«, beruhigte sie Mrs. Theriot und führte sie die kurze Treppe zum Botschaftsgebäude hinauf, »ein wenig Schlaf wird dir gut tun. Du sollst dich richtig ausspannen. Du musst nirgends hin, nichts erledigen.«
Aus dieser Äußerung schloss Niema, dass ihre Anwesenheit beim Dinner heute Abend nicht nur unnötig, sondern aus irgendeinem Grund sogar heikel wäre. »Wenn das so ist, dann würde ich wirklich gerne gleich schlafen gehen.«
Lächelnd und plaudernd, als würden sie einander tatsächlich schon seit Jahren kennen, führte Eleanor Theriot Niema zu einem Aufzug. Im zweiten Stock stiegen sie aus. »Das ist dein Zimmer«, erklärte sie und öffnete dabei die Tür zu einem geräumigen Schlafzimmer mit teils alten, teils modernen Möbeln, die jedoch wundervoll miteinander harmonierten. Der Raum war in einem beruhigenden Türkisgrün mit Akzenten von Weiß und Pfirsich gehalten. Das Bett war so hoch, dass davor ein kleines Fußtreppchen stand, und die Matratze sah so dick aus, als könnte man darin auf Nimmerwiedersehen versinken.
»Durch diese Tür geht es in ein kleines privates Badezimmer«, fuhr Mrs. Theriot fort, öffnete kurz eine mit weißen Holzpaneelen gedeckte Tür und erlaubte Niema einen Blick auf glänzende Messinghähne – oder war es gar Gold? »Dein Gepäck wird heraufgebracht, und falls du möchtest, wird ein Hausmädchen für dich auspacken.«
Niema wollte schon sagen, dass das nicht nötig war, doch dann fiel ihr noch rechtzeitig ein, dass Niema Price Jamieson so etwas möglicherweise gewöhnt war, auch wenn das bei Niema Burdock nicht der Fall sein mochte. »Erst möchte ich ein bisschen schlafen«, sagte sie daher. »Die Koffer können später ausgepackt werden.«
»Aber sicher, meine Liebe. Ich werde dem Personal sagen, dass du nicht gestört werden willst.« Während sie das sagte, trat Mrs. Theriot an einen Schreibtisch, der im Zimmer stand und kritzelte eine kurze Notiz auf einen Zettel, den sie anschließend Niema gab. »Wenn du aufwachst, werden wir uns in aller Ruhe unterhalten. Ich möchte ja so viel von dir erfahren! Ich habe dieser Tage einfach nicht mehr die Zeit, regelmäßigen Kontakt mit alten Freunden zu pflegen, so wie früher. Sag mir jetzt einfach nur, dass es Jaqueline und Sid gut geht, dann bin ich auch schon weg.«
»Jaqueline« und »Sid« waren ihre fiktiven Eltern. »Mom und Dad geht’s gut«, antwortete Niema. »Sie sind zur Zeit in Australien und machen dort einen langen Urlaub.«
»Da kann man ja richtig neidisch werden! Aber ich werde jetzt nicht weiter in dich dringen, Liebes. Ruh dich schön aus, wir sehen uns dann später.« Abermals umarmte sie Niema und verschwand.
Niema warf einen Blick auf den Zettel. »Gehen Sie keinesfalls davon aus, dass Sie hier in der Botschaft jedem trauen können«, hatte Mrs. Theriot geschrieben. »Halten Sie sich immer und unter allen Umständen an Ihre Rolle.«
Sie zerknüllte den Zettel und wollte ihn schon in den Papierkorb werfen, als ihr einfiel, dass das wohl keine gute Idee wäre. Stattdessen zerriss sie ihn in kleine Fetzchen und spülte diese die Toilette hinunter. Danach musste sie mächtig gähnen; schlafen wurde von Minute zu Minute verlockender.
Dann traf ihr Gepäck ein. Es wurde von einem ernsten jungen Mann hereingeschleppt, der sie »Ma’am« nannte. Sobald er fort war und sie die Schlafzimmertür verriegelt hatte, zog Niema die Vorhänge vor, entkleidete sich und nahm eine rasche Dusche. Beim Abtrocknen hatte sie schon Mühe, die Augen offen zu halten, und ohne sich die Mühe zu machen,
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