John Medina - 02 - Gefaehrliche Begegnung
ein Nachthemd oder einen Schlafanzug überzustreifen, erklomm sie das kleine Fußtreppchen und glitt zwischen die kühlen, duftenden Laken. Mit einem erleichterten Stöhnen registrierte sie, wie sich ihre müden Glieder entspannten.
Wann war noch mal dieser Ball, an dem sie Ronsard kennen lernen sollte? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Heute Abend jedenfalls nicht. Vielleicht morgen?
War sie bereit? Noch einmal ließ sie alle Einzelheiten ihrer Rolle Revue passieren, wiederholte gar mehrmals laut den Namen »Niema Jamieson«, um sicherzugehen, dass sie auch darauf reagierte, wenn man sie so ansprach. Sie durfte nicht nur so tun, als wäre sie Niema Jamieson, sie musste Niema Jamieson sein. Ronsard war nicht dumm; er würde es merken, wenn sie ihren eigenen Namen nicht zu erkennen schien.
John hatte ihre fiktive Identität mit aller Gründlichkeit aufgebaut. Die falschen Papiere hielten jeder Untersuchung stand. Darüber brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Nein, was ihr mehr Kopfzerbrechen bereitete, war sie selbst, ihr Schauspieltalent. John mochte eventuell keine Zweifel haben, was sie betraf, sie selbst jedoch schon. Sie hatte nie zuvor eine Rolle spielen müssen, einmal abgesehen vom Iran, wenn man das stumme Tragen eines Tschadors so bezeichnen wollte.
Woran sie jedoch keinerlei Zweifel hatte, war ihre Fähigkeit, in Ronsards Büro eine Wanze anzubringen. Wenn es um diesen Teil ihrer Aufgabe ging, war sie vollkommen sicher.
»Nun, von mir aus kann’s losgehen«, murmelte sie und schlief prompt ein.
D RITTER T EIL
13
Paris
»Louis! Wie schön, Sie zu sehen. Sie sehen blendend aus, wie immer.« Die Gattin des Premierministers blickte strahlend zu Ronsard auf, während sie ihm beide Hände schüttelte und einen Kuss auf jede Wange gab.
Louis hob ihre Hände an seine Lippen und hauchte einen Kuss auf ihre Fingerknöchel. Er mochte Adeline, ein von Grund auf guter und freundlicher Mensch. Ihre ein wenig harten Gesichtszüge besaßen zwar eine unglückliche Ähnlichkeit mit denen eines Pferdes, doch als typische Pariserin machte sie das Beste aus dem, was sie hatte – ihren Augen. Und wenn man sie einmal kannte, nahm man ohnehin nur noch ihre herzliche Art wahr und nicht ihr knochiges Gesicht. »Die Gelegenheit, Sie wiederzusehen, würde ich mir doch nie entgehen lassen, meine Liebe.«
»Sie Schmeichler.« Sie strahlte. »Leider muss ich die anderen Gäste auch noch begrüßen, aber Sie müssen mir versprechen, nicht zu gehen, ohne mich noch einmal aufgesucht zu haben. Ich sehe Sie ja viel zu selten, Sie Cascadeur.«
Er versprach es ihr, eine leichte Sache, überließ sie dann der hinter ihm wartenden Gästeschlange und mischte sich unter jene, die bereits den Ballsaal und die angrenzenden Räume bevölkerten. In einem Alkoven, diskret hinter einem zarten Vorhang verborgen, spielte ein kleines Orchester.
Schwarz befrackte Kellner wuselten mit Tabletts herum, auf denen halb volle Gläser mit goldfunkelndem Champagner standen. Wieder andere offerierten eine Schwindel erregende Anzahl unterschiedlichster hors d’œuvres. Ronsard pflückte ein Glas Champagner vom Tablett eines vorbeigehenden Kellners und ein delikates Häppchen von einem anderen. Er hatte gerade einen Schluck von dem eher mittelmäßigen Champagner genommen – bei solchen gesellschaftlichen Zusammenkünften war der Champagner immer mittelmäßig –, als er jemanden seinen Namen rufen hörte.
Er wandte sich um und erblickte seine Schwester Mariette, die mit ihrem Gatten im Schlepptau auf ihn zueilte. Eduard Cassels Gesichtsausdruck war wie üblich nachsichtig. Mariette war ein spritziges Persönchen, fröhlich und harmlos wie ein Schmetterling. Sie war drei Jahre jünger als Ronsard, und er hatte seiner kleinen Schwester gegenüber von klein auf einen starken Beschützerinstinkt empfunden. Als sie heiratete, wählte sie sich einen fünfzehn Jahre älteren Mann, und Eduard hatte nun die Rolle des Beschützers übernommen.
Eduard hatte sich bei mehreren Gelegenheiten als äußerst nützlich für Ronsard erwiesen. In seiner Stellung als Ministerialbeamter wusste er oft interessante kleine Neuigkeiten über die Regierung, die Wirtschaft und das Privatleben einiger wichtiger Politiker, die er an seinen Schwager weitergab. Dieser richtete im Gegenzug einen umfangreichen Trustfonds für Mariette ein, den er regelmäßig aufstockte, was den Cassels einen Lebensstil erlaubte, der Eduards Gehalt bei weitem überstieg.
»Louis!« Mariette
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