John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
warten lassen. Das passte zu seinem Profil, dachte Saul. Auf dem Monitor sahen sie, wie er auf der Pritsche saß und sich am Kopf kratzte. Er zitterte und stand kurz davor, krank zu werden. Das Oximeter und die Puls-Monitore zeigten, dass er schlecht auf seine Zeit im Loch reagiert hatte, auch wenn es ihm allmählich wieder gelungen war, sich unter Kontrolle zu bringen. Das überraschte Saul nicht. Immerhin war Farouk Wissenschaftler und kein Killer wie Khalid Sheikh Mohammed. Das Loch wirkte auf jeden zutiefst irritierend, der nicht vollkommen psychotisch war.
Mittlerweile hatte Saul jedoch gelernt, diese Männer nicht zu unterschätzen. Sie waren hoch motiviert. Ihr Glaube
schenkte ihnen zusätzliche Kräfte. Keiner der großen Fische war auf einmal zusammengebrochen. Nachdem sie ein wenig preisgegeben hatten, begannen sie wieder zu lügen. Um alles aus ihnen herauszuholen, benötigte man viel Zeit.
Saul war der führende Vernehmer der Task Force 121, ein Delta-Force-Major mit Doktortitel in Psychiatrie von der Duke University. Er wusste, dass er die Richtlinien des Weißbuchs bis ans Limit ausreizte, und einige andere Vernehmer fürchteten sogar, dass seine Methoden die Grenze zu … zu dem F-Wort überschritt, über das er selbst nicht gern nachdachte. Manchmal nach einer besonders erschöpfenden Sitzung stieg auch in ihm Sorge auf. Er wollte nicht eines Tages Josef Mengele im Spiegel sehen. Außerdem fragte er sich, was wohl seine Eltern und seine Frau denken würden, wenn sie auf CNN sähen, was er tat.
Saul hatte jedoch noch nie einen Gefangenen getötet oder in einer Weise verletzt, die nicht wieder heilte. Er ging bis ans Limit, aber wenn er nicht sicher war, ob eine Methode zulässig war, fragte er Colonel Yates, einen Militäranwalt, der der Task Force 121 als ständiger Berater zugeteilt war. Die Fragen wurden nie niedergeschrieben, denn auch der Colonel wollte nicht eines Tages in den CNN-Nachrichten auftauchen. Yates’ Anwesenheit genügte jedoch bereits, um die schlimmsten Impulse der Vernehmer einzudämmen. Außerdem überwachten sie sorgfältig die Gesundheit der Gefangenen, wenn auch nur, um sicher zu gehen, dass ihre Methoden funktionierten. Mittlerweile hatten die Vernehmer der Task Force 121 nahezu einhundert Gefangene verhört, wobei nur einer an einem schweren Herzinfarkt gestorben war, der ihn in jedem Fall getroffen hätte.
Die Vernehmungsbeamten der Task Force 121 waren weiteren Beschränkungen unterworfen. Sie arbeiteten nie allein
und wurden zweimal pro Jahr für eine zweimonatige Pause beurlaubt. Einmal pro Jahr wurden sie von Armeepsychiatern untersucht und einem langen Persönlichkeitstest unterzogen. All diese Regelungen dienten dazu, einen Gotteskomplex zu verhindern, der eine reale Gefahr darstellte, wie Saul wusste. So viel Macht über einen anderen Menschen zu haben, und dabei ging es nicht nur um die Macht zu töten, sondern auch die Macht, Schmerzen zuzufügen, wirkte mitunter berauschend. Andererseits gab es kaum etwas Abstoßenderes, als jemandem vor laufender Kamera die Kehle durchzuschneiden. Dennoch verstand Saul diesen Drang, diesen kranken Nervenkitzel, wenn man die Macht besaß, einen anderen Menschen dazu zu bringen, auf dem Boden zu kriechen und um sein Leben zu betteln … oder um den Tod zu betteln, wenn die Schmerzen unerträglich wurden.
Er wusste, dass er sich auf einem gefährlichen, glatten Abhang bewegte. Allerdings glitt er nur so weit hinunter, bis er die Informationen bekam, die er benötigte. Deshalb quälten ihn auch nur selten moralische Bedenken. In seinem Büro lag ein Briefbeschwerer, in den ein Zitat von George Orwell graviert war: »Die Menschen schlafen nachts nur deshalb friedlich in ihren Betten, weil harte Männer bereitstehen, um für sie Gewalt auszuüben.« Er hatte Khalid Sheikh Mohammed gebrochen und zumindest drei Attentate verhindert und damit Hunderten Zivilisten das Leben gerettet. Auch wenn er ihre Namen nie erfahren würde, und sie nie von ihm erfahren würden, waren sie dennoch real.
Und die Männer, die er verhörte, die Farouks dieser Welt? Sie waren nicht unschuldig. Sie waren keine irakischen Bauern, die im Zuge einer Schleppnetzfahndung gefasst und nach Abu Graib verfrachtet wurden. Sie waren echte Terroristen, die genau wussten, welche Risiken sie eingingen. Für
jene Amnesty-International-Anhänger, die klagten, wie unfair Zwangsmaßnahmen seien, hatte Saul nichts als Missachtung übrig. Wenn diese Schwächlinge
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