John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
Und je eher Wells diese Lektion lernte, desto besser. Willkommen in der realen Welt. In diesem Augenblick war Wells aufgestanden und hatte sich über den Konferenztisch hinweg zu ihr und Shafer gebeugt.
»Ich werde zurückgehen. Und ich werde hineinkommen. «
»Das können Sie nicht tun.«
»Sie brauchen es nur zu genehmigen und die Papiere zu unterzeichnen. Ich werde hineinkommen.«
»In Ordnung«, erklärte Shafer. Wie Exley später erkannte, hatte er nur darauf gewartet, dass Wells diesen Vorschlag machte.
Wells kam tatsächlich hinein. Er hatte nie gesagt, wie es ihm gelungen war, und Exley hatte nie gefragt. Vermutlich hätte die Antwort einige Übertretungen interner Richtlinien und amerikanischer Gesetze beinhaltet. In Langley wusste man nicht, was man mit Wells anfangen sollte; die meisten Feldagenten
suchten auf Dinnerpartys nach Informanten. Wells hingegen versuchte, sich innerhalb der Al-Quaida zu bewähren, wobei er immer wieder Informationen über die Struktur und die Pläne der Gruppe in die Zentrale schickte.
Nach monatelangem Schweigen berichtete Wells im Jahr 1998, dass die Al-Quaida einen Anschlag auf amerikanische Einrichtungen – und dies höchstwahrscheinlich auf eine Botschaft – in Ostafrika plane. Da er keine genaueren Angaben machte, konnte die CIA seine Warnung nicht zuordnen. Ohne großes Interesse an der Information zu zeigen, erstattete die CIA dem Außenministerium pflichtbewusst Bericht, wo die Nachricht pflichtbewusst in einem Aktenschrank verschwand. Zwei Wochen später jagten Selbstmordattentäter die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania in die Luft. Mehr als zweihundert Menschen starben. Ab diesem Augenblick nahm die Agency Bin Laden – und auch Wells – etwas ernster.
Kurz vor Beginn des neuen Jahrtausends trug Wells dazu bei, dass die geplanten Bombenanschläge auf zwei Hotels in Kairo am Silvesterabend vereitelt wurden. Der Plan hatte sich schon in der Endphase befunden, und die CIA war überzeugt, dass er ohne Wells’ Eingreifen verwirklicht worden wäre. Bei seinem letzten Kontakt mit Exley hatte Wells angekündigt, dass er nach Tschetschenien gehen werde. Um seine Vertrauenswürdigkeit unter Beweis zu stellen, hatte er sich freiwillig zu dieser Mission gemeldet. Denn nach den missglückten Anschlägen in Ägypten hatte sich einer der Anführer der Al-Quaida offen gefragt, ob nicht er für den Misserfolg dieser Operation verantwortlich war. Ich muss mich jeden Tag aufs Neue beweisen, hatte er gesagt, denn sie vertrauen mir nicht ganz, und ich weiß auch nicht, ob sie mir je vertrauen werden. Exley wollte sich nicht vorstellen, unter welchem Druck er stand.
Dann wurde es still. Wells’ Verbindung zur CIA war eine Einbahnstraße; Exley hatte keine Möglichkeit, ihn zu erreichen. Nach den vereitelten Milleniumsanschlägen betrachtete ihn Langley als Ass im Ärmel, als letzte Sicherheit, wenn alles schiefging. Nur dass sich das Ass im Ärmel am 11. September in einen unsichtbaren Joker verwandelte. Das glaubten zumindest seine ehemaligen Anhänger, vor allem, als er nach seiner kryptischen Notiz im Herbst 2001 verschwand. Exley konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Vinny Duto Wells am liebsten tot sehen würde. Tot war er ein Held, ein Agent, der das höchste Opfer gebracht hatte. Wenn er noch lebte, war er im besten Fall ein Versager und im schlimmsten ein Verräter. Selbstverständlich war Duto zu klug, um Wells an den Pranger zu stellen, weil er die Anschläge vom 11. September nicht verhindert hatte. Aber sollte Wells je auftauchen, würde sich Duto gnadenlos an seine Fersen heften.
Während Exley erneut in Wells’ Akte sah, fragte sie sich, ob Duto nicht vielleicht recht hatte. Auch sie verstand nicht, warum Wells in die USA zurückgekehrt war, ohne die CIA zu informieren. Ohne zumindest sie zu informieren. Nachdenklich blätterte sie durch den Lügendetektortest:
Frage: Hat es Ihnen leid getan, dass Sie ihm das Bein gebrochen haben?
Antwort: Es war eine saubere Aktion. Und Gewalt ist Teil des Spiels.
Frage: Es hat Ihnen also nicht leid getan?
Antwort: Nein, absolut nicht.
Was, wenn Wells die Seiten gewechselt hatte? Was, wenn er beschlossen hatte, dass Gewalt gegen die USA auch Teil des Spiels war? Kopfschüttelnd verwarf Exley den Gedanken
wieder. Wenn Wells unbemerkt hätte bleiben wollen, hätte er nicht seine Exfrau kontaktiert. Dennoch wünschte Exley, dass er bald Bericht erstattete, und zwar noch bevor etwas in die
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