John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
größer, als er erwartet hatte, und ging nahtlos in die Vororte über, die sich in allen Richtungen kilometerweit auf den sanften Hügeln Georgias ausbreiteten. Außerdem gab es hier nicht nur Schwarz und Weiß, wie er sich vorgestellt hatte, sondern auch jede Menge Lateinamerikaner, Asiaten und sogar ein paar Araber.
Besonders entlang des Buford Highways sah man eine bunte Mischung von Läden mit Schildern auf Vietnamesisch, Japanisch und in vielen Sprachen, die Wells noch nie gesehen hatte. Auf Tacobuden, koreanische Saunen und die First Intercontinental Bank – mit dem Slogan »Tu Banco Local« – folgten ein Motel und ein Waffle House als Überreste des früher bekannten Amerikas. Eineinhalb Kilometer weiter nördlich lag der Buford Farmers Market, auf dem trotz seines ländlichen Namens vorwiegend an Immigranten aus
Lateinamerika verkauft wurde. Hier konnte man ein halbes Kilo in Plastikfolie gewickelten Ochsenschwanz oder Stierhoden schon um 2,99 Dollar bekommen.
Von seinen Bewohnern wurde der Vorort Chamblee oft »Kambodscha« genannt, aber auch dieser Ausdruck wurde kaum seiner Vielfalt gerecht. Der Buford Highway war das postamerikanische Amerika. Es zeigte die USA von seiner hässlichsten, und im besten Fall billigsten Seite, da man hier Immigranten aller Hautfarben nicht nur zuließ, sondern geradezu einlud, dachte Wells. Allerdings war die Gegend dadurch ein guter Unterschlupf. Wer hier Arbeit suchte, konnte überleben, und die Vermieter kümmerten sich nicht darum, ob die Papiere ihrer Mieter in Ordnung waren. Jeder, der rechtzeitig zahlte und keine Probleme machte, war ihnen willkommen, wie etwa Wells.
So lebte er nun schon seit vier Monaten in einem möblierten Einzimmerapartment in einer Seitenstraße des Highways. Jeden Morgen nahm er seinen Platz inmitten der Guatemalteken und Nicaraguaner ein und wartete auf dem Parkplatz auf Arbeit. Anfangs hatten sie ihn für einen Einwanderungsbeamten oder einen Cop gehalten und wollten nicht mit ihm reden, aber allmählich entspannten sie sich ein wenig. Allerdings konnten sie ihn immer noch nicht leiden, denn er wurde häufiger angeworben, weil er weiß war und Englisch sprach.
Aber Wells wusste, wie man als Außenseiter überlebte. Ein neuer Name, eine neue Identität, und wieder das endlos lange Warten auf Aufträge. Manchmal fragte sich Wells, was Typen wie dieser Landschaftsarchitekt Dale wohl sagen würden, wenn er ihnen erzählte, wer er wirklich war. Vermutlich würde er bloß lachen – »Das ist witzig!« – und ihm befehlen, wieder an die Arbeit zu gehen.
Nun wechselten sie auf die I-285 nach Westen. Dies war die Ringautobahn rund um Atlanta. Nachdem sie Doraville hinter sich gelassen hatten, fuhren sie am Perimeter Mall vorüber, einem Einkaufszentrum von der Größe einer Kleinstadt. Selbst nach all den Monaten konnte sich Wells immer noch nicht an den zwanglos zur Schau gestellten Reichtum der USA gewöhnen, diesen schimmernden Wohlstand, der sich in den Autos und Bürogebäuden zeigte. Bei Sandy Springs verließen sie die I-285 und nahmen die Ausfahrt 24. Wenige Minuten später bog Dale in eine Sackgasse mit vier neu errichteten Häusern ein, die sich großspurig HIDDEN HILL-TOP LANE: PRIVATSTRASSE nannte. Auf sie warteten ein mit jungen Bäumen vollbeladener LKW und ein Teenager, der eine Jeff-Gordon-Mütze trug.
»Kyle«, begrüßte Dale den Jungen.
»Wie geht’s, Dale?«, gab der Junge zurück, während sie ein kompliziertes Begrüßungsritual mit den Händen absolvierten.
»Ich habe dir ein paar Mexikaner gebracht«, sagte Dale. »Das hier ist John. Er spricht Spanisch und wird ihnen sagen, was sie tun sollen.«
Wells stockte das Herz. Woher wusste Dale seinen richtigen Namen?
»Jesse«, fiel Wells ein.
»Wie auch immer«, gab Dale gleichgültig zurück. »Solange du nur ein Loch graben kannst.«
Wells schüttelte fassungslos den Kopf. Dieser Dummkopf hatte ihm den größten Schrecken seit Monaten eingejagt.
»Kyle wird euch zeigen, wo ihr sie einsetzen sollt«, sagte Dale, wobei er auf die Bäume auf dem LKW wies. »Seht zu, dass ihr die Wurzeln tief genug einpflanzt.«
Etwa um zwölf Uhr machten sie Mittagspause, wobei sie sich als Schutz vor der Sonne in den Schatten des Hauses setzten. Die Guatemalteken wickelten ihre selbst gemachten Tamales aus und tranken dazu warmes Bier aus der Flasche; Wells zog einen Karton von Kentucky Fried Chicken hervor. Genussvoll kaute er an der fettigen, salzigen Hühnerkeule, seinem
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