John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
an. »Dann sage ich dir etwas. Bevor ich in die USA gekommen bin, habe ich schon alles gewusst. Wie groß und reich das Land ist. Und dass ihr hier Demo-kra-tie und Frei-heit habt.« Auch wenn Eduardos Englisch nicht fehlerfrei war, verstand er die Sprache gut genug, um ihr eine ironische Note zu geben, dachte Wells.
Eduardo hustete und spuckte auf den vorüberfahrenden Verkehr. »Ihr tut, als wäre das der einzige lebenswerte Ort auf Erden. Und jeder, der nicht hier wohnt, müsste unglücklich sein. Ich bin froh, dass ich hierhergekommen bin und mir die USA selbst angesehen habe. Aber ich werde sie sicher nicht vermissen. Für mich ist dies hier nur Arbeit. Nicht mehr.«
Als Wells schließlich sein Apartment erreichte, war es bereits dunkel. Trotz seiner Müdigkeit erinnerte er sich daran, das Klebeband an der Oberseite der Tür und den dünnen schwarzen Draht an der Unterseite zu kontrollieren; beide waren unversehrt. Damit war er seinen Verfolgern einen weiteren Tag entkommen. Sofern sich irgendjemand überhaupt die Mühe machte, ihn zu verfolgen.
Sein Wohnzimmer sah noch trostloser aus als sonst. Es war mit einem schmuddeligen Futon und einem hölzernen Couchtisch ausgestattet, der mit Zigarettenbrandstellen übersät war. Neben einem Bücherregal aus Pressspanplatten stand eine TV-DVD-Kombination mit einigen wenigen DVDs, vorwiegend Western wie Shane. An der Wand hing ein motivierendes Poster, das einen Adler zeigte, der über eine Berglandschaft flog. Bis auf die DVDs und ein paar Bücher wirkte das Apartment ebenso verschlafen wie damals,
als Wells es mietete. Keine Fotos, keine Erinnerungsstücke. Keine Kleidung auf dem Boden, keine Teller in der Spüle. Nichts, das darauf hinwies, dass diese Wohnung von einem menschlichen Wesen und nicht von einem Roboter bewohnt wurde. Bis auf eine Kleinigkeit: Vor ein paar Wochen hatte sich Wells ein Aquarium und ein Pärchen Skalare gekauft.
»Hallo, Lucy. Hallo Ricky«, begrüßte er die Fische im Aquarium. Obwohl er Fische nie besonders mochte, war er nun froh, etwas Lebendiges im Apartment vorzufinden. Halbwegs lebendig, denn in den letzten Tagen waren die Fische immer langsamer geschwommen.
Währender auf dem Gebetsteppich kniete, schlug er im Koran ohne große Begeisterung die erste Sure auf. »Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen!«, murmelte er auf Arabisch. »Alles Lob gebührt Allah, dem Herrn der Welten, dem Allerbarmer, dem Barmherzigen …«
Wells brach ab und legte den Koran auf den Boden. Obwohl er sich bemühte, morgens und abends zu beten, konnte er nicht länger die Wahrheit vor sich verbergen, dass seinem Glauben seit dem Tag, als er hoffnungslos am Grab seiner Eltern gekniet war, die Kraft ausgegangen war wie einem lecken Reifen die Luft. Er glaubte noch immer an Gott, die Barmherzigkeit und die Brüderlichkeit – oder wollte zumindest verzweifelt daran glauben. Aber er hatte Duto die Wahrheit gesagt, als er erklärte, dass der Islam ebenso eine Lebensweise war wie eine Religion. Ein Muslim zu sein bedeutete, fünfmal täglich zu beten und jeden Freitag Schulter an Schulter in der Moschee zu stehen, aber nicht notwendigerweise, dass er daran glaubte, dass Mohammed auf einem weißen Pferd ins Paradies geritten war. Nun betete er allein, und ohne die Zusammengehörigkeit innerhalb der umma, der Brüderlichkeit, wurde ihm der Koran immer fremder.
Auf eine gewisse Weise freute ihn diese Distanz. Denn wenn der Moment kam, in dem er Khadri stoppen musste, würde er nicht zögern. Dennoch wünschte er, zumindest an irgendetwas glauben zu können. Er hatte kein Land, keine Religion und keine Familie. Er hatte sogar schon versucht, seinem Sohn zu schreiben, aber was sollte er dem Jungen sagen? »Lieber Evan, Du kennst mich nicht, aber ich bin Dein echter Vater, und nicht dieser nette Rechtsanwalt, der sich seit Jahren um dich kümmert …« »Lieber Evan, ich weiß, dass ich aus Deinem Leben verschwunden bin, als Du kaum zwei Jahre alt warst …« »Liebster Evan, ich bin es, Dein Dad. Ich kann Dir zwar nicht sagen, wo ich bin und was ich tue, und noch nicht einmal das Pseudonym, unter dem ich heute lebe, aber hier hast Du 50 Dollar. Kauf Dir davon ein Videospiel und denke an mich, wenn Du es spielst.« Nach einem halben Dutzend erbärmlicher Versuche hatte er aufgegeben.
Nie hätte er vermutet, dass er in den USA einsamer sein würde als in der Nordwestprovinz. Vermutlich glaubte er an Exley. Jenny. Von ihr träumte er im Abstand
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