John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
lagen in der Luft. An einem anderen Abend hätte der schale Zigarettenrauch Wells vielleicht vertrieben, aber heute Nacht passte er.
Wells nahm an der Bar neben einer Quizkonsole Platz, deren Bildschirm hell blinkte. Das Lokal war nahezu leer, bis auf einige wenige Stammgäste, die mit alkoholischem Schimmern in den Augen das neunte Inning mitverfolgten, und einige Kids aus Emory auf der Suche nach einem billigen Drink. Wells war schon einmal im Rusty Nail gewesen, in einer ähnlichen Nacht wie dieser, als ihm die Stille in seinem Apartment zu viel geworden war. Er wäre gern öfter hierhergekommen, um zu essen und sich einmal pro Woche ein Spiel anzusehen. Aber regelmäßige Gäste fielen auf.
»Bleib unsichtbar, wo immer du kannst«, hatte ihm der Chefausbildner in Gegenspionage, Knoxville Bill Daley, im Zuge seiner Ausbildung auf der Farm gesagt. »Jetzt sieht man dich noch, wenn du ein Zimmer betrittst. Werde zu einem Mann, an den sich niemand erinnert.«
Seit damals hatte sich Wells bemüht, sich langsamer zu bewegen und den Mund zu halten. Selbstverständlich war es ihm in Afghanistan nicht gelungen, unsichtbar zu bleiben. Immerhin war er durch seine Herkunft aufgefallen. Aber auch dort hatte es ihm geholfen zu schweigen. Manchmal fragte sich Wells, ob er Bills Ratschlag nicht zu sehr verinnerlicht und seine Persönlichkeit so weit zurückgedrängt hatte,
dass er heute nicht mehr wusste, wer er wirklich war. Aber wen kümmerte schon die Antwort auf diese Frage.
Solange er in der Nordwestprovinz lebte, hatte er sich danach gesehnt, nach Hause zu kommen. Und jetzt, wo er wieder hier war, wusste er nicht, was er tun oder sein sollte, sobald diese Mission endete. Sofern sie je endete. Dem Kampf gegen den Terror schien nie die Luft auszugehen. Er würde nie einen anderen Job benötigen und konnte für alle Zeiten den Unsichtbaren spielen.
Knoxville Bills Ratschläge zählten zu den wichtigsten, die Wells im Zug seiner Ausbildung erhalten hatte. Außerhalb der Farm hatte er nie einen toten Briefkasten berührt und nie ein Team von feindlichen Agenten enthüllt. Manchmal bedauerte er es, dass er nicht während des Kalten Kriegs Spion gewesen war. Damals besaß das Spiel noch eine bestimmte formale Eleganz. Die CIA und der KGB existierten nahezu außerhalb ihrer eigenen Regierungen und spielten eine dreidimensionale Schachpartie auf einem Brett, das nur sie sehen konnten. Keine der beiden Parteien erwartete tatsächlich, dass die andere die Welt in die Luft jagte. Stattdessen fochten bevollmächtigte Soldaten in Afrika und Zentralamerika die hässlichsten Kämpfe aus. Einige unglückliche sowjetische Maulwürfe wurden exekutiert, aber nie die eigentlichen Spione. Versagte ein Spion, so erwartete ihn als größte Strafe seine Entlassung aus dem Dienst oder vielleicht eine hässliche Anhörung vor dem Sonderausschuss des Nachrichtendienstes.
Heute war das anders. Wurde man heute von den falschen Kerlen erwischt, endete man als Leiche, und ein Video der eigenen Enthauptung wurde im Internet veröffentlicht. Und die Bösewichte waren tatsächlich bereit, die Welt in die Luft zu jagen, wenn sie nur die Mittel dazu hätten. Unsichtbare
Tinte und Lochkameras waren nette Tricks für einfachere Zeiten.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte die Bardame, eine schlaksige Frau mit einem Piercing in der Nase, freundlichen blauen Augen und einem langärmeligen Braves-T-Shirt.
Als sie sich zu ihm herüberbeugte, wäre Wells fast vom Stuhl gefallen. Nach fast einem Jahrzehnt Enthaltsamkeit raubte ihm schon die Nähe einer Frau fast die Sinne. Vor allem dieser Frau. Sie sah aus wie … nun, wie eine jüngere Version von Exley. Etwas größer und etwas billiger. Kein Wunder, dass er in das Rusty Nail zurückgekehrt war.
Als sie ihn anlächelte, gab er sich größte Mühe, ihr Lächeln zu erwidern. »Einen Burger mit Pommes frites, medium-rare. «
Ihr Lächeln wandelte sich in ein Grinsen. »Medium-rare könnte für unseren ›Chefkoch‹ ein wenig schwierig werden«, sagte sie, wobei sie mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft machte, damit er ihren Scherz nicht übersah – »ich würde mich für das eine oder das andere entscheiden. Ich weiß ja nicht, welche Sprache er spricht, aber es ist sicher nicht Englisch.«
»Dann halb durchgebraten«, entschied Wells.
»Gute Wahl.«
»Und dazu eine Cola.«
»Eine Cola?«
»Nein, ein Bier«, korrigierte sich Wells zu seiner eigenen Überraschung. Eine schuldbewusste
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