John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
leicht vergaß: dass sie existierten. Wells erwartete beinahe, auch Gadsden-Flaggen zu sehen, die wilden gelben Banner, die die Kolonisten während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs getragen hatten und auf denen die zusammengerollte Klapperschlange abgebildet war, gemeinsam mit der Aufschrift: »Tritt nicht
auf mich.« Diese Menge sandte den USA dieselbe Botschaft. Aber auch ihre eigenen Führer in Zhongnanhai müssten diese Botschaft hören.
Allerdings hatten sich die gewöhnlichen Chinesen nach dem Massaker von 1989 auf dem Tiananmen-Platz von der Politik abgewandt und ihre Energien in den Aufbau der Wirtschaft gesteckt. Vielleicht war auch diese Demonstration, so groß sie auch war, in wenigen Wochen vergessen. Vielleicht aber auch …
»Vielleicht weiß ich nicht, wovon ich rede«, murmelte Wells. Er befand sich seit kaum vierundzwanzig Stunden in China, sprach kein Wort Chinesisch und wollte nun die Zukunft des Landes vorhersagen? Das war klassische amerikanische Arroganz. Er sollte weniger Zeit für Vorhersagen aufwenden und mehr Zeit darauf, herauszufinden, ob er beobachtet wurde.
Jenseits der Übertragungswagen beschleunigte die Menge. Sie war ihrem Ziel schon nahe. Unmittelbar vor ihnen öffnete sich die Avenue zum Tiananmen-Platz, wie ein Fluss, der in einen See mündet. In diesem Augenblick sah Wells zum ersten Mal die erstaunlichen Ausmaße des Platzes. Er hatte etwas wie den Washington Mall erwartet. Einen künstlich gestalteten Platz, der sorgfältig gepflegt wurde. Stattdessen glich der Tiananmen-Platz einem leeren Bauplatz, wie ein Loch inmitten einer gigantischen Stadt, das durch seine Rauheit noch mächtiger wirkte.
Von der nordöstlichen Ecke, an der Wells den Tiananmen-Platz betreten hatte, erstreckte er sich achthundert Meter nach Süden und vierhundert Meter nach Westen. Die dicken roten Mauern der Verbotenen Stadt markieren die Nordseite. Das Mausoleum, in dem Maos Leichnam ruht,
befindet sich in der südlichen Hälfte des Platzes, hinter einem hohen Granitobelisken, der an eine verkleinerte Version des Washington Monument erinnert.
Während sich Wells orientierte, strömten immer mehr Demonstranten herbei, die sich zu den Hunderttausenden Menschen gesellten, die sich bereits im Zentrum des Platzes zusammendrängten. Aus den Lautsprechern rund um den Platz ertönten immer wieder Rufe. Ob Warnungen oder Ermunterungen der Menge, konnte Wells nicht feststellen. An diesem Tag gab es so vieles, das er nicht kannte. Sein ganzes Leben lang hatte er sich privilegiert gefühlt, angesichts dessen, was er erleben durfte – und mitunter hatte er diese Bevorzugung sogar verflucht. Aber noch nie zuvor hatte er sich so sehr als Außenseiter gefühlt, nicht einmal an seinem ersten Tag in Afghanistan. Er befand sich im Auge eines menschlichen Hurrikans und beobachtete einen Wirbel, dessen physikalische Eigenschaften über sein Verständnis hinausgingen. Dieser Wirbelsturm besaß eine natürliche Kraft, die nicht an ihm interessiert war, gleichzeitig aber die Macht hatte, ihn zu zerreißen.
Die Sicherheitskräfte hatten das Zentrum des Tiananmen-Platzes den Demonstranten überlassen. Aber in der Nordwestecke, von wo aus eine Avenue zum Regierungsviertel Zhongnanhai führte, stand eine grüne Wand von Soldaten, Schulter an Schulter, vor einer langen Schlange gepanzerter Mannschaftstransportwagen. Hunderte weitere Soldaten blockierten den Eingang zur Verbotenen Stadt, wo von der Außenwand des Palastes ein gigantisches Banner von Mao herabhing.
Wells wandte sich nach rechts in Richtung des Banners, wo die Polizei einen Pfad für all jene Touristen offen hielt,
die mutig oder dumm genug waren, an diesem Tag die Verbotene Stadt zu besichtigen. Unmittelbar unter dem Porträt von Mao durchschnitt ein Torbogen die äußere Palastwand. Dies war das Tor des himmlischen Friedens, der Südeingang zur Palastanlage. Und während Wells durch das Tor hindurchging, wurde es seinem Namen gerecht. Das Krachen der Lautsprecher auf dem Tiananmen-Platz verklang hinter ihm, als gäbe es keinerlei Proteste mehr.
»Offen?«, erkundigte sich Wells bei dem hübschen Mädchen im Kartenkiosk. Er konnte es immer noch nicht glauben. Aber sie nickte.
Als sie ihm die Eintrittskarte gab, fasste ihn ein Mann am Ellbogen. »Sie Amerikaner? Ich Student. Peking Universität. Name ist Sun.«
»Sicher bist du das«, gab Wells zurück. Cops sahen überall auf der Welt gleich aus. Dieser Kerl hätte der Bruder des Taxifahrers
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