John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
zurück in seinen Schreibtisch. Die Idee war ein gewagter Versuch. Er würde auf die Ausdauer dieses Amerikaners vertrauen müssen, eines Amerikaners, den er noch nie gesehen hatte. Aber ihm blieb keine andere Wahl.
Zehn Minuten später saß Cao in seinem Jeep und steuerte ihn durch die Nacht nach Osten. Gepanzerte Jeeps und Gefangenentransporter blockierten den Zugang zum Tiananmen-Platz. Aber als die Soldaten, die die Blockade bewachten, die Sterne an Caos Unform sahen, verschwand ihr grimmiger Blick und sie salutierten und winkten ihn durch.
Östlich des Tiananmen-Platzes wurde der Verkehr wieder dichter und die Stadt zeigte sich von ihrer strahlenden, glitzernden Seite. Dieser Straßenabschnitt war Pekings Antwort auf die Fifth Avenue, wo sich Geschäft an Geschäft reihte und die chinesische Elite Handtaschen für mehrere Tausend Dollar kaufte. Cao fuhr an einem Ferrari-Händler
vorbei, dessen niedrige, geschwungene gelbe Wagen im Licht des Ladens schimmerten. Ein Ferrari-Händler – kaum mehr als einen Kilometer vom Tiananmen-Platz entfernt. Während in ganz China Bauern und Fabrikarbeiter täglich darum kämpfen mussten, etwas zu essen zu bekommen. Vielleicht hatte Li doch recht. Vielleicht benötigte China tatsächlich seine Führung.
Nein. Selbst wenn Li recht hatte, durfte er es sich nicht erlauben, so verrückte Risiken einzugehen. Cao trat das Gaspedal bis zum Boden durch. Ihm blieb nicht viel Zeit.
Wells rief eine Nummer mit der Vorwahl 415 an, die er noch nie zuvor angerufen hatte. Schon beim ersten Läuten hob Exley ab. »Hallo?«
»Jennifer?«
»Jim.« Aus ihrem Mund klang sein Tarnname seltsam. Obwohl sie mit ruhiger Stimme sprach, spürte er die Spannung. »Wie war dein Flug?« Im Hintergrund hörte er CNN.
»Alles in Ordnung. Das Hotel ist großartig. Es könnte genauso gut in Paris stehen.« Wells wollte das Gespräch so banal wie möglich halten. Zweifellos überwachten die Chinesen jeden eingehenden und ausgehenden Anruf des St. Regis in dieser Nacht.
»Wie spät ist es jetzt bei dir?«
»Zwei Uhr früh. Aber ich bin hellwach. Jetlag. Gibt es zu Hause etwas? Etwas, das ich wissen sollte?« Dies war ihre einzige Chance, es ihm mitzuteilen, falls seine Tarnung bereits aufgeflogen war.
»Nein. Den Kindern geht es gut. Alle vermissen dich.« Das war eine Entwarnung, soweit dies möglich war.
»Sag ihnen, dass ich sie auch vermisse. Wie steht es mit meiner Nichte?«
»Sie hat immer noch nicht angerufen. Dein Bruder ist schon krank vor Sorge.« Der Maulwurf war also immer noch unauffindbar.
»Nun, sag ihm, er soll sich nicht allzu viele Sorgen machen. Hör zu, Liebes, dieser Anruf kostet ein Vermögen … Ich wollte nur wissen, wie es geht, und dir sagen, dass ich dich liebe.«
»Ich liebe dich auch. Pass auf dich auf, ja? Diesmal bist du auf dich allein gestellt.« Dies war ein Hinweis darauf, dass sie ihn in New York gerettet hatte. Ihre Stimme brach, aber bevor er noch etwas sagen konnte, hatte sie schon aufgelegt.
30
Als Wells mit weiten Schritten auf die Eingangstür des St. Regis zuging, winkte ihm der Empfangschef, ein kleiner Mann in einreihigem Anzug, aufgebracht zu. »Sir. Guten Morgen, Sir. Einen Augenblick bitte. Man hat uns ersucht, unseren amerikanischen Gästen dies hier zu geben.«
Der Empfangschef händigte Wells ein mit dem Logo des amerikanischen Außenministeriums versehenes Schriftstück aus, das die Überschrift »Bekanntmachung für Amerikaner« trug.
»Das amerikanische Konsulat in Guangzhou wurde letzte Nacht informiert, dass ein amerikanisches Ehepaar, welches zum Zweck einer Adoption China besuchte, Opfer eines Angriffs geworden ist. Der Vorfall steht offensichtlich in Zusammenhang mit der Wut über die sich verschlechternden amerikanisch-chinesischen Beziehungen.« Bürokraten und Diplomaten liebten das Wort Vorfall, dachte Wells. Es vermied heikle Themen wie die Frage, was wirklich geschehen war und wer dafür zur Verantwortung zu ziehen war.
»Bisher ist dieser Vorfall ein Einzelfall geblieben. Dennoch sollten sich amerikanische Staatsbürger bemühen, sich unauffällig zu bewegen, und antiamerikanische Demonstrationen« – eine gute Formulierung - »und große Gruppen von Chinesen zu meiden.« Bei einer Gesamtbevölkerung dieses Landes von eineinhalb Milliarden Menschen war dies eine schwierige Aufgabe.
»Die Lage ist ungewiss. Sobald sich die Bedingungen ändern, werden neue Informationen ausgegeben.«
»Vielleicht sollten Sie heute besser im
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