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John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes

John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes

Titel: John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berenson
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sein können, den Wells vor zwei Stunden abgehängt hatte. Seine Schuhe – oder besser gesagt seine schwarzen geschnürten Stiefel – waren poliert. Welcher Student hatte je polierte Schuhe an?
    »Ich führe Sie«, sagte Sun. »Übe mein Englisch. Gratis.«
    »Ich passe. Ich bin ein wenig asozial.« Wells hielt den Audioguide hoch, der, so seltsam es klang, von Roger Moore besprochen worden war. »Außerdem habe ich die Führung gebucht und alles andere.«
    Wells gab sein Ticket dem Wächter und spazierte durch den Vordereingang. Als er sich umdrehte, überraschte es ihn keineswegs, dass ihm Sun im Abstand von dreißig Metern deutlich sichtbar folgte. Was würde Jim Wilson tun? Wells drehte sich um.
    »Das ist mein einziger Tag für Sehenswürdigkeiten, und ich weiß nicht, warum du mich belästigst.«

    »Nicht belästigen«, sagte Sun. »Nur aufpassen. Heute kein guter Tag für Amerikaner hier.«
    »Das hat man mir schon gesagt.«
    Wells entschloss sich, nicht weiterzudiskutieren. Es war erst 9:45 Uhr und das Treffen sollte zu Mittag stattfinden. Ihm blieben demnach noch zwei Stunden, um den Burschen loszuwerden. So schlenderte er durch den Palast und gab sein Bestes, um wie ein halb gelangweilter, halb beeindruckter amerikanischer Tourist zu wirken. Was keineswegs schwierig war. Der Verbotene Palast war kein europäischer Palast im Stil von Versailles, dessen prachtvolle Anlage mit dekorierten Räumen aufwartete. Stattdessen bestand der Gebäudekomplex aus leeren Höfen, die von Zeremonienhallen getrennt waren. Da gab es die Halle der Vollkommenen Harmonie, die Halle der Erhaltung der Harmonie und Halle der Höchsten Harmonie. Die Kaiser hatten offenbar viel übrig für Harmonie. Dann würde sie der heutige Tag wohl nicht glücklich machen, dachte Wells.
    Im nördlichen, inneren Palast waren die Wohnbereiche des Herrschers untergebracht. Sie bestanden aus kunstvoll geschnitzten Holzpavillons, die tiefrot bemalt waren als Zeichen für die Macht des Kaisers. Dem gewöhnlichen Chinesen war der Zutritt zum Palast bei Todesstrafe verboten – daher auch der Name des Gebäudekomplexes. Im Lauf der Jahre war der Palast jedoch so oft geplündert worden, dass die meisten Gebäude heute vollständig leer waren. Ohne Roger Moore als persönlichen Touristenführer hätte Wells nicht gewusst, was er sah.
    Neben der Audiotour hatte Wells auch noch einen Taschenführer für die Verbotene Stadt mitgebracht. Während ihm Sun in gemächlichem Tempo folgte – dies war die langsamste Verfolgungsjagd der Welt -, blätterte er in dem
Führer. Wells hatte den jungen Mann schon mehrmals fortgescheucht, aber ohne Erfolg. Je weiter der Vormittag fortschritt, umso mehr Besucher fanden sich im Palast ein. Um 11:00 Uhr schlenderte ein Dutzend amerikanischer Touristen mittleren Alters an ihm vorüber, bewacht von zwei gelangweilten Polizisten. Wells vermutete, dass sie durch das Nordtor den Palast betreten hatten und nicht durch den Eingang am Tiananmen-Platz. Er fragte sich, was sie von all dem hielten. Joe und Phyllis aus Sacramento hatten vermutlich nicht erwartet, in einen Krieg hineinzustolpern, als sie die siebentägige Chinareise buchten.
    Um 11:45 Uhr entdeckte Wells schließlich in der Nordwestecke des Palastkomplexes, wo enge gepflasterte Gänge unregelmäßig geformte Höfe verbanden, eine Möglichkeit, um Sun abzuhängen. Er mahnte sich, nicht zu laufen.
    Wells tauchte durch eine Gruppe japanischer Touristen in einen Holzpavillon, in dem Hofkleidung ausgestellt war. Während sich die Japaner am Eingang drängten und Sun für einige wertvolle Sekunden blockierten, lief Wells durch den Pavillon und sprang über ein Geländer in einen der Gänge. Einige Sekunden lang sprintete er entlang des Gebäudes, etwa dreißig Meter weit, bis das Gebäude endete und der Gang an eine T-Kreuzung kam. An dieser Kreuzung wandte sich Wells nach rechts, rannte wieder einige Meter entlang des Pavillons und sprang dann über ein anderes Geländer wieder in das Innere hinein.
    Er presste sich eng an eine Schauvitrine und spähte hinaus. In diesem Augenblick erreichte Sun keuchend die Kreuzung und drehte sich auf der Suche nach Wells nach links und rechts. Schließlich trottete er nach links davon, in Richtung des Zentrums des Gebäudekomplexes. Ausgezeichnet. Wells wartete noch einige weitere Sekunden, ehe
er den Pavillon durch den Vordereingang verließ. Er fühlte sich, als wäre er einen Kaugummi losgeworden, der an seinem Schuh geklebt war. Wenn

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