John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
Männern, und schon warfen sie die Leichen mit derselben Gleichgültigkeit in den Wagen, mit der sie ein paar Säcke Mehl hineingeworfen hätten. Als Wells wieder in den Lieferwagen steigen wollte, stolperte er über eine der Leichen. Der Körper war immer noch warm. Praktisch noch am Leben. Nur dass er eben nicht mehr lebte.
Während der Lieferwagen davonrollte, ließ sich Wells auf den Boden des Laderaums fallen und versuchte nachzudenken, was als Nächstes geschehen würde. Angenommen, die Chinesen besaßen tatsächlich so etwas wie ein Führungsund Kontrollsystem. Dann würden sie noch vor Tagesanbruch entdecken, dass die Polizisten fehlten. Vermutlich innerhalb von zwei Stunden.
Li würde zwar nicht genau wissen, was passiert war, aber er könnte sich einiges vorstellen. Er würde annehmen, dass Cao und Wells versuchten, per Boot zu entkommen. Er würde die Osthälfte der Provinz und das umgebende Meer mit jedem Soldaten und jedem Schiff überwachen lassen, derer er habhaft werden konnte. Er würde in der Provinz und an der Küste den Notstand ausrufen und allen Zivilisten befehlen, ihre Boote an diesem Tag am Dock vertäut zu lassen. Ganz China würde sie jagen. Sie mussten so schnell wie möglich das Festland verlassen. Selbst wenn sie die Möglichkeit hatten, sich irgendwo zu verbergen, glaubte Wells nicht, dass er noch einen weiteren Tag ohne Krankenhaus überstehen würde. Er fühlte sich leer und schwach und sein Bauch war gefährlich empfindlich durch den Blutverlust. Ein Arzt würde ihn rasch wieder in Ordnung bringen, daran zweifelte er nicht. Ohne Arzt würde er jedoch verbluten, oder an einer inneren Infektion sterben, sobald die Bakterien in seinen Eingeweiden in seinen Blutkreislauf eindrangen.
»Cao.«
»Time-Square-Wells.« Cao entzündete ein Feuerzeug und berührte mit der schwachen gelben Flamme eine dicke Zigarette, die er zwischen den Zähnen hielt. Dann streckte er ihm die Packung entgegen. Wells schüttelte den Kopf. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Cao vorher nicht geraucht hatte, um nicht dadurch ihre Anwesenheit in dem Hohlraum zu verraten. Jetzt war diese Diskretion nicht mehr nötig. Ihr Versteck war zu einem Schlachthof geworden.
»Wie weit noch?«
Cao ließ seine Uhr aufleuchten. »Vielleicht eine Stunde. Hundertzehn Kilometer. Keine Nebenstraßen mehr.«
Als wolle der Lieferwagen seine Worte beweisen, beschleunigte
er plötzlich, sodass Wells gegen die Seitenwand des Laderaums geschleudert wurde. Stöhnend rang er nach Atem. »Führt der Highway bis nach Yantai?«
»Ja. Dann nach Osten, zwanzig Kilometer, Chucun. Dort Boot.«
»Und das Boot, welche Art von Boot ist es?«
Die Spitze von Caos Zigarette glühte hell auf. »Wir sehen werden.«
Wells lachte. Das war alles, was er tun konnte.
Es war 2:20 Uhr. Sie waren gut vorangekommen. Die kleine Bucht war eine angenehme Überraschung. Der schmale, halbkreisförmige weiße Sandstreifen wurde von einem dichten Wald geschützt. Das Boot selbst war eine andere Geschichte. Es war kaum mehr als ein überdimensionales Ruderboot von ungefähr sieben Metern Länge, mit einem großen Außenbordmotor. Es lag tief im Wasser, die schwarze Farbe blätterte vom Holz ab, Fischernetze hingen vom Rumpf herunter und unter den breiten Holzplanken, die als Sitze dienten, lagen vier rote Plastikkanister mit Benzin. Neben dem Boot saß ein etwa fünfundsechzigjähriger Chinese.
Obwohl Wells wusste, dass das Gelbe Meer außergewöhnlich ruhig war, konnte er nicht glauben, dass sie Inch’on in dieser Badewanne mit Motor erreichen konnten. Immerhin lagen dazwischen vierhundertachzig Kilometer offenes Wasser. Und selbst wenn es ihnen gelang, würden sie zwölf oder mehr Stunden benötigen, in denen sie von der chinesischen Marine gejagt würden. Plötzlich sah ihre Lage mehr als hoffnungslos aus.
»Keine Chance«, sagte Wells.
»Keine Wahl«, erwiderte Cao. Dann umarmte er die Männer,
die sie gefahren hatten, und wechselte ein paar Worte auf Chinesisch mit dem alten Mann neben dem Boot. Wells fragte sich, was ihre Helfer als Nächstes tun würden. Vermutlich würden sie den Lieferwagen so gut wie möglich in einem Graben verstecken und verschwinden.
Cao stieg in das Boot, wobei sein Plastikbein gegen die Seitenplanken schlug. Als ihm Wells folgte, stürzte er beinahe. Cao hatte recht. Sie hatten keine andere Wahl. In der Ferne hörte er einen Hubschrauber, der zweifellos nach ihnen suchte. Er ließ sich schwer auf die Holzbank fallen und
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