John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
geschlossen, stieg ihr der belebende Duft frischen Kaffees in die Nase. Das Büro, das sie nun betrat, glich in seiner absurden Durchschnittlichkeit dem Wartezimmer eines Zahnarztes. Freundliche Poster und Lithografien von Thomas Kinkade schmückten die Wände. Schmale Holzstühle standen neben einem alten Tisch, auf dem alte Zeitschriften darauf warteten, dass Besucher in ihnen blätterten. Aber niemand las je diese Zeitschriften. Denn niemand besuchte je Okay Enterprises.
»Morgen, Mrs Exley.«
»Morgen, Tim.« Tim war ein untersetzter Mann Ende vierzig. Heute, wie an jedem anderen Tag, trug er eine gebügelte khakifarbene Hose und ein Sportsakko, um sein Schulterhalfter zu verbergen. Er sprach wenig, und Shafer,
Exleys Vorgesetzter, schwor auf ihn. Neben seinem Schreibtisch gurgelte fröhlich die Kaffeemaschine.
»Offenbar bin ich genau zur richtigen Zeit gekommen.«
»Ich hab den Kaffee eben gebrüht, weil ich dachte, dass Sie bald kommen werden.« Tims Akzent ließ sich nicht leicht zuordnen. Mitunter schwang ein wenig Südstaatenakzent mit, dann wiederum war er etwas flacher, wie man im Mittleren Westen sprach. Er goss bereits den dampfenden Kaffee in einen Plastikbecher mit Tarndesign, auf den »Operation Freiheit für den Irak« in weißen Buchstaben aufgedruckt war. Shafer hatte die Kaffeebecher in einem Restpostenlager der Armee gekauft. Ursprünglich hatten sie neun Dollar neunundneunzig pro Stück gekostet, waren aber bereits auf einen Dollar reduziert worden. »Das nenne ich ein gutes Geschäft«, hatte Shafer gesagt. »Ich wollte zwar welche mit dem Gesicht von Rumsfeld darauf, aber vermutlich sind die schon vor Langem eingestampft worden.«
Exley nahm den Kaffeebecher dankbar entgegen. »Danke. Hatten Sie ein nettes Wochenende?«
»Mhm.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Post auf seinem Schreibtisch zu.
Das werte ich als Ja, dachte Exley. Seit Shafer Tim in die Abteilung gebracht hatte, hatten Wells und sie sich fragt, wie sein Privatleben aussah. War er verheiratet, geschieden, Bigamist, schwul? Wohnte er in der Nähe des Büros? Verbrachte er seine Wochenenden auf dem Jupiter und pendelte er jeden Montagmorgen durch einen Raum-Zeit-Lift auf die Erde? Sie würde es nie erfahren. Immerhin war sie nicht einmal sicher, ob er tatsächlich »Tim« hieß. Shafer, der es wusste, würde es ihr nicht sagen.
»Tim hält viel von Privatsphäre«, hatte Shafer gesagt, als sie ihn gefragt hatte. »Ich bin sicher, dass Sie und John das
respektieren.« Dabei hatte er wie die Grinsekatze aus dem Wunderland gelächelt. Allerdings hatte ihr Shafer einen Informationskrümel zugeworfen. Tim hatte noch nie für die Agency gearbeitet.
Es war kein Zufall, dass niemand etwas über Tims bisherigen Lebensweg wusste. Die heruntergekommenen Büros spiegelten nur die einzigartige ruhelose Position wider, die Wells, Exley und Shafer innerhalb der CIA einnahmen. Die Hälfte ihrer Zeit verbrachten sie auf dem Campus in Langley, der nur wenige Kilometer entfernt an derselben Straße lag. Dennoch hatte Shafer bewusst diese Räumlichkeiten so weit entfernt wie möglich vom Dunstkreis der Agency gewählt.
Die Agency bezahlte die Wohnung, und jeden Monat durchstreifte ein Team der CIA-Abteilung für elektronische Gegenmaßnahmen die Räumlichkeiten nach Wanzen. Shafer erzählte ihnen jedoch nicht, dass sich danach auch sein eigenes Team für Gegenmaßnahmen auf die Suche nach Geräten machte, die der Agency vielleicht entgangen waren – oder von ihr installiert worden waren. Zusätzlich ließ Shafer das Büro nicht von den Sicherheitsleuten der Agency bewachen, sondern vertraute für diese Aufgabe auf Tim.
Selbstverständlich hasste Vinny Duto dieses Arrangement. Er hatte auch allen Grund, unglücklich zu sein, dachte Exley. Shafer setzte sich über die Richtlinien der Agency und ein Dutzend Gesetze hinweg. Aber nach dem, was vor einem Jahr in New York passiert war, konnte niemand Wells, Exley oder Shafer etwas anhaben.
Die körperlichen Folgen des Anschlags auf dem Times Square waren schwerwiegend gewesen. Sowohl Wells als auch Exley waren angeschossen worden und brauchten
mehrere Monate, um sich wieder zu erholen. Wells musste sich zusätzlich mit einer weiteren Schwierigkeit auseinandersetzen. Während die Agency Exleys Identität nicht preisgegeben hatte, war Wells’ Name an die Öffentlichkeit gedrungen, wenn auch ohne Foto und biografische Einzelheiten. Die Agency hatte angeboten, öffentlich zu
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