John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
waren mehr Zuwanderer herbeigekommen, sodass die Straße nun voll von Menschen war, die sich um die Polizeiwagen drängten.
»Lass mich los! Lass mich los!«, kreischte die alte Frau aus dem fünften Stock, als sie ein Polizist vom Fenster wegzog.
»Lass sie los!«, brüllte ein Arbeiter.
Mit Ziegelsteinen, Stahlstangen und anderem Material von der Baustelle bewaffnet, gingen die Zuwanderer langsam auf die Polizisten zu. Ein Polizeibeamter griff nach dem Megafon des Mannes im schwarzen T-Shirt.
»Verschwindet jetzt, ihr Kakerlaken, sonst verhaften wir euch alle.«
Song trat vor. »Wir haben nichts Unrechtes getan.«
»Noch ein Wort von dir«, gab der Polizeibeamte zurück, wobei er drohend den Schlagstock hob.
»Lass ihn in Ruhe«, sagte Jordan.
Der Polizeibeamte grinste hämisch. »Und wer bist du? Ein dürrer kleiner Zuwanderer.« Der Polizist stieß Jordan
zurück und griff nach seiner Bulls-Mütze. Das ist alles, was ich habe, dachte Jordan. Die Mütze bedeutete für ihn alles: sein Geld, sein Glück, seine Verbindung zu seinem Vater …
»Herr Offizier …« Song legte dem Polizisten die Hand auf die Schulter. Wortlos holte der Cop mit dem Schlagstock aus und versetzte Song einen Hieb in die Rippen. Als Song vornüberkippte, ließ der Polizist den Stab auf seinen Schädel niedersausen. Songs Augen rollten nach oben, während er wie ein Kartoffelsack zu Boden stürzte.
»Mörder!«, brüllte ein alter Mann aus dem Apartmenthaus. »Du hast ihn getötet!« Ein Tontopf flog aus dem Fenster und landete mit lautem Krach auf dem Dach eines Polizeiwagens.
»Mörder! Mörder!«, lief der Ruf durch die Menge wie ein Feuer, das nach Nahrung suchte. Fünf Sekunden lang, dann zehn starrten die Polizisten und die Zuwanderer einander an. Noch war keine der beiden Parteien zu mehr Gewalt bereit.
»Verschwindet jetzt! Das ist ein Befehl!«, rief der Polizeibeamte in das Megafon, worauf die Menge einen halben Schritt zurückwich. Song stöhnte auf der Erde.
Jordan griff hinunter zu seinen Füßen, und als hätte sein Vater sie dort hingelegt, fand er eine Bierflasche, eine große, die zerbrochen war, und deren Glasspitzen so scharf waren wie ein Steakmesser. In einer raschen Bewegung packte er sie, trat vor und holte damit zu einem Hieb gegen die Kehle des Polizisten aus.
Noch bevor das Blut aus der Wunde strömte, hatten sich die Polizisten bereits auf ihn gestürzt. Er wehrte sich, so kräftig er konnte, aber nach dem ersten Dutzend Hieben war es ihm gleichgültig. Als Yu ebenfalls vortrat, sprangen
die Polizisten auch auf ihn los. »Mörder!«, schrien die Arbeiter. »Mörder!«
Und dann konnte nichts mehr den Aufruhr aufhalten.
Mit Brechstangen und Ziegeln überwältigten die Zuwanderer die Polizisten und zerstörten Läden und Autos im Stadtzentrum von Guangzhou. Irgendjemand – die Polizei fand nie heraus, wer – steckte das Apartmentgebäude in Brand, das der Auslöser für diese Kämpfe gewesen war. Da die Feuerwehr nicht bis zu dem Gebäude vordringen konnte, starben vierundzwanzig Personen im Feuer.
Bis zur Mitte des Nachmittags hatten sich die Auseinandersetzungen auf die gigantischen Fabriken in den Außenbezirken von Guangzhou ausgeweitet, wo Zuwanderer für Löhne arbeiteten, die kaum für Nahrung und Miete reichten. Weitere Tumulte brachen in Shenzen aus, einer Achtmillionen-Stadt zwischen Guangzhou und Hongkong, und in Shaoguan im Norden. Insgesamt starben bei den zweitägigen Kämpfen einhundertzweiundvierzig Aufständische, einhunderneununddreißig Zivilisten und dreiundzwanzig Polizisten. Die Auseinandersetzungen endeten erst, als die Volksbefreiungsarmee durch Guangdong rollte und in der gesamten Provinz eine Ausgangssperre verhängte.
Die Regierung versuchte, eine Nachrichtensperre über Guangdong zu erzielen, indem sie sämtliche Reporter verhaftete, die über den Aufstand schrieben. Aber die Nachricht verbreitete sich rasch über Handy-Kameras und Internet-Postings, die schneller auftauchten, als die Zensoren sie ausschalten konnten. Peking spielte die Gewalt herunter, aber die Videos zeigten ein hässliches Bild: brennende Fabriken, Polizisten, die Tränengas und Gummigeschosse abfeuerten, Panzer, die durch die überfüllten Straßen von Guangzhou rollten.
Während sich die Nachrichten von den gewalttätigen Auseinandersetzungen verbreiteten, flammten auch in anderen chinesischen Großstädten vereinzelt Tumulte auf. Die Polizei von Schanghai verhaftete einhundertfünfundzwanzig
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