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John Wells Bd. 3 - Stille des Todes

John Wells Bd. 3 - Stille des Todes

Titel: John Wells Bd. 3 - Stille des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berenson
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stumpfe Messer spezialisiert hatten. In regelmäßigen Abständen von drei Metern standen sie ordentlich aufgereiht nebeneinander und traten trotz Stiefeln unglücklich von einem Fuß auf den anderen.
    Der echte Hamburger Rotlichtbezirk lag ein paar Hundert Meter weiter südlich, wo die Prostituierten in der Herbertstraße nach Amsterdamer Vorbild in Schaufenstern saßen. Die etwa sechzig Meter lange Straße war nur für erwachsene Männer zugänglich. Frauen und Kinder wurden durch hohe Holzzäune an beiden Enden ferngehalten. Trotz des hässlichen Geschäfts besaß die Straße einen gewissen brutalen Glanz. Die Prostituierten posierten in Spitzendessous auf Hockern und blickten auf die Männer herab, die sich unter ihnen auf dem Asphalt drängten. Die Herbertstraße wurde von der Polizei kontrolliert, die Prostituierten waren bei der Stadt registriert und wurden regelmäßig auf HIV getestet. Den billigen Nutten auf der Reeperbahn fehlte jeder Glamour. Sie
trugen dicke Daunenjacken und enge Jeans. Ihre jungen, unfertigen Gesichter wirkten bereits verschlissen. Die Mädchen sahen aus wie Schülerinnen, die in ihrem Bett eingeschlafen und in der Hölle aufgewacht waren.
    Ein stetiger Strom von Touristen, Seeleuten und Einheimischen passierte den Platz. Alle wurden mit derselben geflüsterten Aufforderung bedacht, die halb Gurren, halb Zischen war. Wenn ein Unvorsichtiger stehen blieb, legten die Frauen ihm die Hand auf den Arm und redeten leise, aber drängend auf ihn ein. Doch es war erst zehn Uhr abends, es nieselte, und die meisten Männer waren nüchtern und hatten keine Lust. Also rauchten die Frauen, stampften mit den Füßen auf, um sich warmzuhalten, und fuhren sich mit den Händen durch das blond gefärbte Haar, während sie darauf warteten, dass sich das Geschäft belebte.
     
    Vom hinteren Ende des Platzes aus beobachtete Sayyid Nasiji den Tanz der Huren. Er hatte die deutsche Einstellung zu diesen Frauen noch nie verstanden. Nur ein paar Blocks weiter gab es eine Polizeidienststelle. Warum tolerierten die deutschen Beamten diesen trostlosen Anblick? Wie hatten diese Frauen so tief sinken können? Wo waren ihre Familien?
    Nasiji machte sich keine Illusionen. Auch in islamischen Ländern gab es Prostitution. Aber zumindest schämten sich die Muslime dafür und versuchten, sie auszumerzen. Die Deutschen dagegen schienen geradezu stolz auf die Frauen, die sich in aller Öffentlichkeit verkauften. Auf der Reeperbahn drängten sich die Menschen, und zwar keineswegs nur Seeleute und hässliche alte Männer, denen keine Wahl blieb. Studenten und
Büroangestellte tanzten in den Klubs zwischen den Striplokalen.
    Trotzdem gefiel es Nasiji in Deutschland. Er hatte in München an der Technischen Universität studiert. Ursprünglich hatte er sich auf Kernphysik spezialisieren wollen. Aber er war Iraker, und seine Professoren hatten ihn darauf hingewiesen, dass ihn kaum ein Atomkraftwerk einstellen würde. Deswegen hatte er sich für technische Chemie entschieden, obwohl er seine Freizeit vor allem in den Kernphysiklabors der TU verbrachte.
    Nasiji war in Ghazaliya im Westen Bagdads aufgewachsen. Sein Vater Khalid war Brigadegeneral in Saddam Husseins Republikanischer Garde gewesen. Damit stand er hoch genug im Rang, um sich ein zweistöckiges Betonhaus bauen und einen gebrauchten BMW 735i leisten zu können, der sein ganzer Stolz war. Allerdings vermied er es tunlichst, weiter aufzusteigen, und entging so den blutigen Säuberungsaktionen, die alle paar Jahre die Führungsspitze der Garde hinwegfegten.
    Nasiji war das zweite von fünf Kindern, der Liebling seiner Eltern und schon in seinen ersten Schultagen wegen seiner Intelligenz aufgefallen. Nachdem er als Klassenbester die Hochschulreife erworben hatte, ermutigte Khalid ihn, in Europa zu studieren, besorgte ihm eine Ausreisegenehmigung und ein Visum für Deutschland.
    Nasijis Familie war gemäßigt religiös, und als Kind war Nasiji jede Woche zum Gebet in die Moschee »Mutter aller Schlachten« in Ghazaliya gegangen. In München war er seinem Glauben treu geblieben, hatte fünfmal täglich gebetet und nie Schweinefleisch gegessen oder Alkohol getrunken.

    Als Fanatiker konnte man ihn beim besten Willen nicht bezeichnen. Im Frühjahr 2001, seinem letzten Jahr, äußerten seine Freunde zunehmend unverhohlen ihren Hass auf Europa und die Vereinigten Staaten. Manche von ihnen sprachen sogar davon, ihr Studium abzubrechen und sich in einem afghanischen Lager für den

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