John Wells Bd. 3 - Stille des Todes
Dschihad ausbilden zu lassen. Nasiji interessierte das nicht. Er lernte lieber. Und obwohl er jeden Streit mit seinen Freunden vermied, hielt er das Gejammer über den Westen für Zeitverschwendung. Als Gast in Deutschland würde er die dortigen Sitten und Gesetze respektieren, in der Hoffnung, dass sich deutsche Besucher im Irak ebenso verhielten.
Nach Abschluss seines Studiums kehrte Nasiji nach Bagdad zurück. Er war zu Hause, als Khalid am 11. September anrief und von dem Anschlag auf das World Trade Center berichtete. Gemeinsam mit seinen Brüdern rannte er zum Fernseher und sah die Zwillingstürme brennen. Amir, Nasijis ältester Bruder und der größte Amerikahasser in der Familie, jubelte, als der erste Wolkenkratzer in sich zusammenbrach.
»Du freust dich darüber?«, fragte Nasiji.
»Soll ich weinen? Armes Amerika. Hast du vergessen, was sie uns 1991 angetan haben, Sayyid? Bist du in all den Jahren in Deutschland zum Weichling geworden? Diese Amerikaner bekommen nur, was sie verdient haben. Bei uns gibt es keine Arbeit, und die Regale in den Geschäften sind leer. Daran sind nur die Amerikaner mit ihren Sanktionen schuld. Auf unseren Straßen wird gebettelt. Wann hat es das je gegeben?«
Nasiji konnte nicht widersprechen. Nach dem Golfkrieg von 1991 hatten die Vereinigten Staaten und die
Vereinten Nationen Sanktionen verhängt, die die irakische Wirtschaft ruiniert hatten. Seit seiner Rückkehr war es Nasiji nicht gelungen, eine Stelle zu finden, obwohl die Technische Universität München zu den besten Unis Europas gehörte.
Trotzdem musste er seinem Bruder widersprechen. »Zugegeben, unsere Wirtschaft liegt am Boden. Aber es hat doch niemand was davon, ganz gewöhnliche Büroangestellte umzubringen.«
»Hast du vergessen, was für ein Schläger du bis vor fünf oder sechs Jahren warst? Als Schüler haben wir uns doch jeden Nachmittag ein paar Schiiten zum Verprügeln gesucht. Weißt du noch, was du damals zu mir gesagt hast?«
»Das ist lange her, Amir.« Nasiji wurde nur ungern an jene Zeit erinnert.
»Du hattest viel Spaß dabei. Bis du eines Tages einfach damit aufgehört hast. Du hast uns nie erzählt, warum.«
»Vergiss es. Was habe ich gesagt?«
»Dass man die Welt manchmal daran erinnern muss, dass es einen gibt. Und die beste Methode ist eine geballte Faust.«
»Ich war sechzehn, Amir.«
»Na und? Als uns die Amerikaner vor zehn Jahren bombardierten, wurden viele ganz gewöhnliche Leute getötet. Ich wüsste nicht, dass die deswegen auch nur eine Träne vergossen hätten. Jetzt erfahren sie am eigenen Leib, wie das ist. Wir haben sie daran erinnert, dass es uns gibt.«
»Einige meiner Professoren in München waren Amerikaner. Sie waren immer fair.«
»Sei nicht so naiv. Sieh dir doch mal Ägypten an. Sie
spielen uns Araber gegeneinander aus, einen Muslim gegen den anderen. Und dann die Unterstützung für Israel. Ein Jude ist eine Million von unseren Leute wert. Wart’s nur ab: Die werden einen Weg finden, die Sache gegen uns zu verwenden. Sie werden kommen und unser Öl stehlen.«
In den folgenden Monaten sollte sich Amirs düstere Prophezeiung bewahrheiten. Die Vereinigten Staaten schickten sich an, den Irak anzugreifen, trotz aller Proteste, trotz der Beschlüsse der Vereinten Nationen. Nichts half. Die amerikanischen Panzer kamen nach Kuwait und rollten über die Grenze.
Für die Familie Nasiji war die Invasion eine Katastrophe. Khalid verlor seinen Generalsposten, als die Amerikaner die irakische Armee auflösten. Als hochrangiges Mitglied der Baath-Partei hatte er keine Chance, für die neue Regierung zu arbeiten. Einige Offiziere der Republikanischen Garde begannen, den Widerstand gegen die Besatzung zu organisieren, aber Khalid wollte sich ihnen nicht anschließen.
»Warten wir ab, was passiert«, sagte er zu seiner Familie. »Vielleicht erweist es sich ja als Segen.«
Dann begann die Gewalt. Im November 2003 wurde ein Cousin von Nasiji an einem amerikanischen Kontrollpunkt getötet. Ein anderer fiel einem Selbstmordbomber zum Opfer.
Im nächsten Monat schloss sich Amir einer Zelle sunnitischer Aufständischer an. Sayyid versuchte vergeblich, ihn davon abzuhalten.
»Sie bringen uns alle um, wenn wir es zulassen«, sagte Amir. Vier Monate später war er tot. Erschossen im April
2004 von einem amerikanischen Scharfschützen, als er um drei Uhr morgens auf der Schnellstraße zwischen Bagdad und Falludscha eine Bombe legen wollte.
Fouad, der jüngste Bruder, starb als
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