John Wells Bd. 3 - Stille des Todes
schließlich.
»Danke. Gehen Sie bitte auf Ihren Platz zurück«, sagte er, als hätte Wells um ein Gespräch gebeten, nicht umgekehrt. Für den Rest des Fluges ignorierten die Flugbegleiter Wells komplett.
Am Flughafen Scheremetjewo 2 war der Empfang ebenso unterkühlt.
»Pass?«, sagte der Beamte auf Englisch. Er war ein durchtrainierter Mann mit feindseligen braunen Augen
und einem Schnurrbart, der sich über seiner Oberlippe kräuselte. Wells gab ihm den Kramon-Pass und die Einund Ausreisekarte, die alle Besucher Russlands ausfüllen mussten.
»Urlaub in Russland? Jetzt?«
»Ich habe einen guten Preis bekommen.«
»Welches Hotel?«
»Das Novotel. Ich habe über Expedia gebucht. Wollen Sie die Reservierung sehen?« Wells fing an, in seiner Computertasche zu wühlen.
»Vergessen Sie’s.« Der Grenzbeamte blätterte in Wells’ Pass herum, scannte das Visum und gab etwas auf seinem Computerterminal ein. Dann riss er die Hälfte der Einreisekarte ab und gab Wells die andere Hälfte zurück. »Einreisekarte. Nicht verlieren.«
»Danke.«
Aber der Beamte hatte sich bereits der hinter Wells wartenden Frau zugewandt.
Eine halbe Stunde später checkte Wells im Novotel ein, legte sich auf sein Bett und war eingeschlafen, bevor er sich auch nur ausziehen konnte. Als er aufwachte, war sein Mund wie ausgedörrt. Sein ganzer Körper war angespannt, und er war sicher, ein Kratzen an der Tür gehört zu haben. Er rollte sich aus dem Bett, glitt lautlos zur Tür und riss sie auf. Der Gang draußen war verlassen. Wells putzte sich die Zähne, schlüpfte aus seinen Kleidern und ging wieder ins Bett. Als er die Augen schloss, nahm er sich vor, von Exley zu träumen. Aber falls er das tat, konnte er sich nicht daran erinnern.
Am nächsten Morgen öffnete Wells seinen zweiten Koffer, einen großen grünen Samsonite-Hartschalenkoffer aus Kunststoff, der vor dreißig Jahren in Mode gewesen
sein mochte und seinem Besitzer grundsätzlich die Schienbeine grün und blau schlug. Wells klappte ihn auf und warf Kleidung und Schuhe beiseite. Am Boden des Koffers befanden sich vier nahezu unsichtbare Einkerbungen, in denen Senkschrauben saßen. Wells löste sie mit seinem Schweizer Messer. Darunter befand sich ein dreißig Zentimeter langes, zehn Zentimeter breites und zehn Zentimeter tiefes Fach. Es enthielt Wells’ libanesischen Pass und fünfhundert Fünfhundert-Euro-Scheine - insgesamt zweihundertfünfzigtausend Euro in zwei Päckchen, die nicht dicker waren als ein schmales Taschenbuch. Wells dankte der Europäischen Zentralbank im Stillen dafür, dass sie die Fünfhundert-Euro-Scheine in Umlauf gebracht hatte, die gelegentlich auch als »Bin Laden« bezeichnet wurden, so selten wurden sie gesichtet. Allerdings konnte er beim besten Willen nicht verstehen, was sich die Bürokraten der Bank dabei gedacht hatten. Wer außer Spielern, Drogenhändlern und Spionen brauchte eine Banknote, die fast eintausend Dollar wert war?
Neben Geld und Pass enthielt das Geheimfach ein paar andere Artikel, die Wells bei der CIA-Abteilung für Wissenschaft und Technik angefordert hatte. Leider war keine Feuerwaffe dabei; die hätte er höchstens im Diplomatengepäck transportieren können. Wells nahm nur den libanesischen Pass und zwanzig Scheine - insgesamt zehntausend Euro - an sich, steckte sie sich in die Tasche und ließ alles andere in dem Fach. Dann setzte er die Abdeckung wieder ein und packte den Koffer neu.
Ein paar Minuten später steuerte er mit dem Samsonite in der Hand die Metrostation Mendelejewskaja neben dem Novotel an. Wie die meisten Moskauer U-Bahn-Stationen war auch diese als Luftschutzbunker ausgelegt.
Der Bahnsteig lag fast einhundert Meter unter der Oberfläche und war über eine Rolltreppe zugänglich, deren Ende von oben nicht zu erkennen war. Wells fand die lange Fahrt seltsam beruhigend. Freudianer und Buddhisten hätten ihre Freude an diesen Röhren gehabt. Während eine endlose Reihe Moskowiter schweigend im Bauch der Erde verschwand, stieg eine andere aus ihr empor - die endlose Wiederholung von Tod und Auferstehung im Kleinformat.
Wells fuhr mit der grauen Linie zur Station Borowizkaja, wo er in die rote Linie umstieg. Am Park Kultury wechselte er zur Ringlinie, mit der er sechs Stationen fuhr, bevor er auf der anderen Seite des Bahnsteigs den Gegenzug nahm. Grundübungen der Gegenobservation. Die Metrowaggons aus blauem Wellstahl mit den großen Fenstern stammten noch aus der Sowjetzeit und tauchten aus den
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