John Wells Bd. 3 - Stille des Todes
hatte, schlenderte Wells durch das Moskauer Stadtzentrum, die Boulevards und Gässchen um den Kreml. Die Stadt war laut, geschäftig und strotzte nur so vor Reichtum. Im Einkaufszentrum GUM drängten sich Hermès, Dior, Cartier und Dutzende anderer Luxusboutiquen. Die Tatsache, dass einhundert Meter vom einbalsamierten Leichnam des Begründers des kommunistischen Russlands entfernt Handtaschen für viertausend Dollar verkauft wurden, kam Wells zutiefst ironisch vor. Aber die Moskowiter schien das nicht zu belasten. Sie schlenderten glücklich mit schweren Einkaufstaschen durch die Galerien. Wells überlegte, Exley irgendwelche offiziellen Olympiaartikel von den olympischen Winterspielen mitzubringen, die 2014 in Sochi stattfinden sollten. Als er das Preisschild auf der Mütze in seiner Hand sah, überlegte er es sich jedoch rasch anders: zweitausendzweihundert Rubel, fast einhundert Dollar. Für eine Baseballkappe. Wells rechnete dreimal nach, ob er sich nicht getäuscht hatte. Wer kaufte den Plunder? Und warum? War Russland nicht angeblich ein verarmtes Dritte-Welt-Land? Die Erdölvorkommen schienen die Situation auf den Kopf gestellt zu haben.
Das Einkaufszentrum, das Rosette für ihr Treffen gewählt hatte, lag außerhalb des Stadtkerns fast am Ende der grünen Metrolinie. Es war nicht ganz so luxuriös wie das GUM, aber das Angebot war immer noch sehr gut. Es gab ein IMAX-Kino und eine Vielzahl von Geschäften, wie sie in jeder amerikanischen Vorstadt vertreten waren. Ein Starbucks fehlte allerdings. Aus unerfindlichen Gründen war die Kette in Moskau nicht vertreten. Wells war mit Rosette im Coffee Bean verabredet, einer örtlichen Coffeeshop-Kette. Er bestellte zwei schwarze Kaffees, suchte sich einen Platz an der Wand, von dem aus er die Tür im Auge behalten konnte, und wartete.
Und wartete. Rosette kam eine Dreiviertelstunde zu spät. Zuerst erkannte Wells ihn nicht. Er war Anfang sechzig, trug einen eleganten blauen Anzug und hatte distinguiert wirkendes Silberhaar. Die Baskenmütze, von der er gesprochen hatte, ragte aus seiner Manteltasche. Wells hätte ihn nie für einen Franzosen gehalten, aber wie ein Russe sah er auch nicht aus. Eher deutsch oder schwedisch. Rosette bestellte in aller Ruhe, bevor er zu Wells schlenderte. Aus der Nähe gesehen, wirkte er nicht ganz so eindrucksvoll. Er hatte ein fleischiges Gesicht und eine Trinkernase, deren Haut wie eine Landkarte von feinen roten Äderchen durchzogen war.
»Kommen Sie«, sagte er auf Englisch zu Wells.
Gemeinsam gingen sie durch die Einkaufsgalerie. Sie waren ein auffälliges Paar. Rosette war fast so groß wie Wells und viel besser angezogen als die meisten Männer hier. Die reichen Russinnen kleideten sich geradezu lächerlich gut - daher die Luxusboutiquen im GUM -, aber die Männer bevorzugten Trainingsanzüge und Jeans.
»Warum haben Sie mich herkommen lassen?«
»Ich dachte, Sie wollten was von Moskau sehen, Mr Wells«, erwiderte Rosette. »Außerdem hatte ich Einkäufe zu erledigen.« Er lachte kurz, was bei ihm sehr französisch klang.
Wells wurde den Verdacht nicht los, dass der Scherz auf seine Kosten ging. »John ist mir lieber.«
»Wie Sie wollen. Ich bin Nicholas, wie der heilige Nikolaus.«
»Also gut, Nicholas. Ich würde Sie gern etwas fragen. Wenn Sie nicht wüssten, wer ich bin, wie lange würden Sie brauchen, um herauszufinden, was Sie von mir halten sollen?«
»Vermutlich nicht besonders lang. Haar und Hautfarbe sind nicht schlecht, und Sie scheinen ein paar Kilo zugelegt zu haben. Aber auf die Dauer reicht das nicht. Wie sieht denn Ihr Comic aus?«
»Mein Comic?«
»So nennen wir Franzosen die Coverstory.«
Wells erklärte es ihm.
»Und Sie wollen Iwan Markow treffen. Ihnen ist doch klar, dass das keine gute Idee ist? Hat Shafer Ihnen von mir erzählt?«
»Nein.«
»Ich bin schon ewig bei der DGSE.« Das stand für Direction Générale de la Sécurité Extérieure, den französischen Geheimdienst. »Schon viel zu lang.«
»Hier?«
»Hier, da, überall. Und jetzt wieder hier. So lange, dass ich die Russen stark, schwach und jetzt wieder stark erlebt habe. Mir waren sie lieber, als sie schwach waren. All das hier« - Rosette sah sich im Einkaufszentrum um - »weckt ihre schlechtesten Eigenschaften. Ein leidender
Russe ist ein edler Mensch. Ein reicher Russe ist ein Schwein. Ein Schwein mit einer Rolex, das nicht einmal die Uhr lesen kann.«
»Wenn Sie meinen.«
»Sonst noch Fragen?«
»Woher kennen Sie
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