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Johnson, Denis

Johnson, Denis

Titel: Johnson, Denis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesu’s Sohn
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Immer wieder rief ich: «Georgie, siehst du was?», und immer wieder antwortete er: «Was sehen? Was denn?»
    Das letzte sichtbare Licht war ein Streifen Sonnenuntergang, flackernd unter einem Wolkenrand. Diese Richtung schlugen wir ein.
    Mit weichen Knien stolperten wir einen Hügel hinunter; unten war eine offene Fläche, anscheinend ein Soldatenfriedhof, Reihe um Reihe schmuckloser, gleichförmiger Grabsteine auf Soldatengräbern. Mir war dieser Friedhof bisher gar nicht aufgefallen. Auf der andern Seite des Feldes, gleich hinter den Schneevorhängen, war der Himmel aufgerissen, und aus einem strahlend blauen Sommer stiegen die Engel herab, die ungeheuren Gesichter lichtüberströmt und voller Erbarmen. Ihr Anblick schnitt mir ins Herz, lief mir die Wirbelsäule hinab, und wenn meine Gedärme nicht völlig leer gewesen wären, hätte ich mir vor Angst in die Hosen gemacht.
    Georgie breitete die Arme aus und rief: «Mann, das ist ja das Drive-in!»
    «Das Drive-in ...» Ich war mir nicht sicher, was diese Worte bedeuteten.
    «Die zeigen hier Filme, mitten in einem Scheißschneesturm!» brüllte Georgie.
    «Ich seh’s», sagte ich. «Ich hab’s für was anderes gehalten.»
    Wir stiegen vorsichtig weiter hinab, kletterten durch einen geborstenen Zaun und standen vor der Rückseite des Gebäudes. Die Lautsprecher, die ich für Grabsteine gehalten hatte, grummelten im Gleichtakt Dann erklang glockenklare Musik; fast hätte ich die Melodie erkannt Berühmte Filmstars fuhren auf Fahrrädern an einem Fluß entlang und lachten aus riesigen, hinreißenden Mündern. Falls irgendwer hier gewesen war, um sich die Vorführung anzugucken, war er beim Wettereinbruch wieder verschwunden. Kein Auto war zu sehen, nicht einmal ein kaputtes von letzter Woche, nicht einmal eins, das kein Benzin mehr hatte und deshalb stehengelassen werden mußte. Minuten später wirbelte und tanzte es plötzlich auf der Leinwand, sie wurde schwarz, der cinematographische Sommer war zu Ende, der Schnee verfinsterte sich, und ich konnte nichts mehr erkennen als meinen eigenen Atem.
    Kurz darauf sagte Georgie: «Allmählich tun’s meine Augen wieder.»
    Es stimmte: Graue breitete sich aus und gebar alle möglichen Gebilde. «Aber was davon ist nun nah», fragte ich ihn, «und was weit weg?»
    Wir zogen wieder auf gut Glück los. Marschierten etliche Male hin und her, in durchnäßten Schuhen, fanden endlich unseren Wagen, setzten uns rein und bibberten.
    «Laß uns abhauen», sagte ich.
    «Geht doch nicht ohne Scheinwerfer.»
    «Wir müssen aber zurück. Wir sind weit weg von zu Hause.»
    «Sind wir nicht»
    «Wir müssen fast fünfhundert Kilometer gefahren sein.»
    «Wir sind ganz nah bei der Stadt, Saukopp. Wir sind einfach immer im Kreis gefahren.»
    «Übernachten können wir hier jedenfalls nicht Man kann ja schon die Interstate hören.»
    «Laß uns hierbleiben, bis es richtig Nacht ist. Dann fahren wir nach Hause, und kein Mensch sieht uns.»
    Wir hörten die riesigen Laster auf der Interstate von San Francisco nach Pennsylvania fahren: wie Schauer, die ein langes Sägeblatt durchlaufen. Unterdessen schneiten wir ein.
    Schließlich meinte Georgie: «Wir sollten schleunigst Milch für unsere Häschen auftreiben.»
    «Hier gibt’s keine Milch.»
    «Wir werden Zucker reinrühren.»
    «Würdest du bitte sofort mit dieser Milch aufhören?»
    «Mensch, das sind Säugetiere.»
    «Vergiß die Häschen.»
    «Wo stecken sie eigentlich?»
    «Du hörst mir nicht zu. Ich sagte, vergiß die Häschen.»
    «Wo stecken sie?»
    Die Wahrheit war, ich hatte sie ganz vergessen, und sie waren tot.
    Mit tränenerstickter Stimme sagte ich: «Sie sind um mich rumgeglitscht. Jetzt sind sie zerquetscht.»
    «Sie sind um dich rumgeglitscht?» Er schaute zu, wie ich sie hinter meinem Rücken hervorzog.
    Eins nach dem anderen holte ich sie heraus, hielt sie in den Händen und betrachtete sie zusammen mit Géorgie. Es waren acht Sie waren nicht größer als meine Finger, aber alles war dran. Kleine Füße! Augenlider! Sogar Barthärchen!
    «Für immer dahin», sagte ich.
    Georgie sagte: «Wird eigentlich alles, was du anfaßt, zu Scheiße? Mußt du immer alles versauen?»
    «Kein Wunder, daß sie mich Saukopp nennen.»
    «Der Name wird dir bleiben.»
    «Ich weiß.»
    «‹Saukopp› wird dich begleiten, bis du ins Grab sinkst.»
    «Hab ich doch grad gesagt. Ich hab dir ja schon im voraus zugestimmt», sagte ich.
    Aber vielleicht geschah all das gar nicht an dem Tag, an dem

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