Joli Rouge (German Edition)
erstreckte. Die Kapitäne wollten die Meerenge
schnellstmöglich hinter sich lassen, um auf die offene See
zu gelangen. Die Möglichkeit, von Spaniern entdeckt zu
werden, war in dieser Region besonders hoch.
L‘Olonnais überwachte den Rückzug der Männer, die sich
unter seinem Kommando befanden. Gerade eben war die zweite
Hundswache zu Ende gegangen, und er hatte vier Stunden Zeit
zu ruhen, während die Steuerbord-Gruppe, die unter Antoines
Befehl stand, ihren Dienst verrichtete. Erst um Mitternacht
würden die Männer der Backbord-Gruppe zur Mittelwache
antreten müssen. Das Anwachsen der Mannschaft hatte bislang
zu keinerlei Problemen geführt. Obwohl man die
hinzugekommenen Bukaniere an ihren rauen Kniebundhosen,
schlecht gegerbten Schuhen und den typischen Hüten mit der
tiefgezogenen Krempe erkannte, fügten sie sich nahtlos in
die bestehende Besatzung ein. L’Olonnais gähnte und
beobachtete seinen Maat. Eine tiefe Zornesfalte zeigte sich
seit ihrem Aufbruch aus Bayahá auf seiner Stirn, und er
fragte sich, ob es an der schwarzen Hure lag, die seinerzeit
bereits De L’Isle den Kopf verdreht hatte. L’Olonnais hatte
sie und Antoine zusammen gesehen, und er schluckte den
anschwellenden Knoten der Eifersucht hinunter, der sich in
seinem Hals ausbreitete. Wären sie länger geblieben, hätte
er der Dirne einen Besuch abgestattet, um ihrem unnützen
Dasein auf dieser Erde ein jähes Ende zu bereiten. Er war
nicht gewillt, Antoine die gleichen Freiheiten zu gewähren,
wie er sie einst De L’Isle zugestanden hatte. Er konnte
nicht dulden, dass auch Antoine ihm entglitt. Es war an der
Zeit, sich ihm zu offenbaren. Sein Maat war ein gefestigter
Charakter, und es würde ihm Freude machen, ihn zu formen.
Die Überfahrt nach Maracaibo war ein günstiger Zeitpunkt für
eine derartige Annäherung. Sie kannten sich lange genug, als
dass L’Olonnais‘ Gesinnung Antoine allzu unerwartet treffen
würde, und vielleicht gefiel ihm sogar, was er sich für ihn
ausgedacht hatte. Er zog erregt die Oberlippe hoch und
pirschte sich an seinen ersten Maat heran. Die Hecklaterne
warf unruhige Schatten auf Antoines Gesicht. L’Olonnais
schnupperte. Das Meer war ruhig, der Wind zu schwach, als
dass das Schiff die volle Aufmerksamkeit seines Freundes
benötigte. Er stellte sich neben ihn.
»Ich weiß deine Treue mir gegenüber zu schätzen«,
schmeichelte er und schielte auf die zarte Stelle hinter
Antoines Ohren, an der sein Blut pulsierte. Er spielte mit
dem Messer in seiner Hand und mit dem fixen Gedanken in
seinem Kopf. Lüstern leckte er sich die Lippen.
Als er eine kalte Klinge an seinem Hals spürte, dachte er
im ersten Augenblick an einen Überfall, doch Antoines
schneidende Stimme belehrte ihn eines Besseren: »Nimm
Abstand, Bruder! Deine Aufmerksamkeit ehrt mich. Aber es
gibt willigere Opfer auf diesem Schiff!«
L’Olonnais taumelte einen Schritt zurück, bevor er sich
fing und das Gesicht verzog. »Ich bin dein Gönner«, fauchte
er und versuchte, sich seine Überraschung über die Reaktion
seines Maats nicht anmerken zu lassen.
»Und ich stehe in deinen Diensten.« Antoine neigte leicht
den Kopf.
»Du hast die schwarze Hure besucht«, stellte L’Olonnais
fest.
»Welch Seemann lässt sich diese Gelegenheit entgehen,
bevor er wochenlang auf dem Meer ist?« Antoines Ruhe
verärgerte ihn, und er versuchte, das Messer auszumachen,
dessen Schärfe noch am zarten Fleisch seiner Narbe
nachhallte. Doch Antoine war geschickt. Beide Hände ruhten
pflichtbewusst am Steuerrad, als hätten sie nie etwas
anderes getan. L’Olonnais grunzte amüsiert.
»Du hast Talent«, gab er unumwunden zu. »Schenk mir dein
Vertrauen, Antoine, und ich zeige dir, wie du dein Talent
bei mir einsetzen kannst.«
Die Augen seines Maats funkelten ihn stumm im Schein der
Laterne an. L’Olonnais verschränkte die Arme. Er war es
nicht gewohnt zu bitten.
»Mein Vertrauen verlor ich vor langer Zeit. Im Übrigen
fehlt es mir schlicht an der Neigung«, entgegnete Antoine
bestimmt.
»Die Neigung folgt dem Tun.« L’Olonnais ertappte sich bei
einigen ungehörigen Gedanken. Ihm wurde heiß.
»Ich wäre geneigter, über das Tun nachzudenken, wenn du
endlich deinem Versprechen nachkommst.« Antoine beugte sich
vor, um ihm herausfordernd ins Gesicht zu starren.
»Du stellst ständig Forderungen!« L’Olonnais warf einen
Handschuh nach ihm, den sein Maat intuitiv auffing, ohne den
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