Joli Rouge (German Edition)
lüsternen Blicken des
Olonnaisen entkommen zu sein, die sie bis in den letzten
Winkel von Maracaibo verfolgten. Erst die gefangenen Sklaven
lenkten seinen Trieb auf andere Dinge, und Jacquotte fühlte
sich schuldig, dass deren Qual ihr zur Flucht verholfen
hatte. Ihre Männer waren begraben worden, der Rest ihrer
Mannschaft hatte gute Beute gemacht, und auf ihren ersten
Maat war Verlass. Er überwachte alles in ihrem Sinne, sodass
sie sich schließlich mit der Entschuldigung hatte
zurückziehen können, ihre Wunden versorgen zu müssen. Der
einzige Arzt, den sie ausfindig machen konnte, war jedoch zu
betrunken gewesen, um seiner Aufgabe nachzukommen und so
hatte Jacquotte selbst Hand angelegt. Der spanische Wein
beruhigte sie und das Alleinsein tat ihr gut. Sie lehnte
sich gegen das zertrümmerte Fenster und dachte an Pierre. Er
hatte ihr am heutigen Tag das Leben gerettet. Es war
sonderbar, nach so langer Zeit wieder an seiner Seite zu
kämpfen. Das Wiedersehen mit ihm vor einigen Wochen war
aufwühlend gewesen. Besonders, als er ihr versichert hatte,
sie nicht verraten zu haben. Obwohl diesbezüglich noch
Zweifel an ihr nagten, war sie mit einem Mal gewillter denn
je, ihm zu glauben. Nervös über diese ungewohnten Gedanken
stützte sie ihre Stirn gegen das zersplitterte Holz. Ihre
Gefühle spielten ihr offenbar einen Streich. Jacquotte rief
sich zur Ruhe. Sie durfte nicht zulassen, dass er zerstörte,
was sie sich mühsam aufgebaut hatte!
Eine knarrende Treppenstufe ließ sie herumfahren und
Deckung hinter einem umgestürzten Schrank suchen. Sofort lud
sie ihre Pistole. Die Flammen unter dem Fenster warfen
tanzende Punkte an die massive Holzdecke. Jacquotte gab
keinen Laut von sich. Wenn einer der Sklaven glaubte, sich
in diesem Haus zu verstecken zu können, würde sie ihn töten
und damit Rache für ihre gefallenen Brüder nehmen. Die
Geräusche verstummten, und sie hielt den Atem an. Vorsichtig
spähte sie in den dunklen Raum. Minuten vergingen. Dann
bewegte sich ein Schatten in Richtung Fenster. Jacquotte
spannte das Schloss, und die Gestalt fuhr herum. Sie
erkannte die Umrisse und fragte sich, ob es ihre Gedanken
gewesen waren, die ihn angelockt hatten.
»Was willst du hier?«, murrte sie und legte das Schloss
zurück.
»Ich wollte dir die Gelegenheit geben, dich zu bedanken«,
erwiderte Pierre.
Sie steckte die Pistole weg und trat an ihn heran. »Ich
habe dich gerade verschont. Ist das nicht Dank genug?«
»Nur zu, die meisten Narben an meinem Körper sind ohnehin
von dir.«
Er beobachtete sie aufmerksam und löste Unbehagen in ihr
aus. Wachsam sah sie aus dem Fenster, aber außer dem
üblichen Treiben war nichts Verdächtiges zu erkennen.
»Der Baske gab mir den Auftrag, dich auszuspionieren. Dein
Auftreten missfällt ihm, und er fragt sich, warum er deine
Vergangenheit nicht kennt«, erklärte Pierre ohne weitere
Umschweife.
»Weshalb erzählst du mir das?«
»Nur weil wir Fremde sind, macht uns das nicht zu
Feinden.« Er senkte seine Stimme. »Ich weiß inzwischen, dass
der Baske den Plan hatte, dich zu töten. Er sagte es mir
selbst vor unserer Abreise nach Maracaibo. Du hast eine
mutige Entscheidung getroffen.«
Jacquotte warf den Kopf zurück. »Hör auf, Verständnis zu
heucheln, Pierre! Es ist viel geschehen in den letzten
Jahren. Ich fürchte mich nicht mehr vor dem Basken oder
L’Olonnais! Ich habe endlich mein eigenes Schiff. Etwas
anderes wollte ich nie.«
Pierre knirschte derart mit den Zähnen, dass sie es hörte.
Er war wütend auf sie. Sie musste lächeln und war froh, dass
die Dunkelheit ihr Gesicht verbarg. Sie sah den Jungen ihrer
Kindheit vor sich, mit dem sie sich ebenfalls ständig
gezankt hatte. Ohne es zu wollen, überflutete sie eine Welle
der Erinnerungen. Émile, Manuel, ihre Siedlung unter den
Limonenbäumen, ihre Höhle über dem Meer. Jacquotte schloss
kurz die Augen, um die Gedanken zu verscheuchen.
»Als ich Tierra Grande verließ, tat ich es in dem Glauben,
dass ich dir nichts bedeute.« Seine Stimme klang heiser.
»Sei still! Die Vergangenheit ist ohne Belang«, wies sie
ihn zurecht.
Pierre verstummte. Lange Zeit verharrten sie nebeneinander
und blickten aus dem Fenster.
„Weißt du, woher mein Name stammt?“ fragte sie, um sich
abzulenken. Seine Nähe war befremdlich.
Pierre sah auf und sie erkannte, dass er mit dem Jungen
ihrer Kindheit nicht mehr viel gemein hatte. Sein Körper war
Weitere Kostenlose Bücher