Joli Rouge (German Edition)
Siedlung. Sie
hörte einige Männer empört rufen, verstand aber ihre Worte
nicht. Neugierig geworden, stand sie auf, streckte ihre
schmerzenden Muskeln und schlenderte quer über den Platz zu
ihnen hinüber. Die Männer drehten ihr den Rücken zu, so dass
Jacquotte sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um zu
erkennen, was in der Mitte des Kreises vorging.
»Ich sage, jeder soll sie haben«, forderte einer der
Männer.
»Aye, Lafitte, aber ich steige zuerst über sie rüber«,
lachte ein anderer.
»Du hast doch bereits jedes Schwein auf dieser Insel
gehabt, Boisbrûlé. Lass deinen Brüdern diesmal den
Vortritt.«
»Nichts da! Ich war’s, der dem Knaben im Kampf das Hemd
zerschnitt, auf dass sein Busen uns entgegen hüpfte. Das ist
meine Beute.«
»Brüder teilen gerecht. Und deshalb wird sie jeder einmal
vö…« Der feiste, rotbackige Mann verstummte sofort, als er
Jacquotte entdeckte, die ihren Hals reckte, um einen Blick
auf das Geschehen zu erhaschen.
Die Männer drehten sich um und machten die Sicht auf eine
Gruppe von etwa einem Dutzend Menschen frei, die gefesselt
vor ihnen standen. Jacquotte erkannte an ihrer tiefbraunen
Haut und den Brandabzeichen auf ihren Hälsen, dass es sich
um Sklaven handelte. Außer zerschlissenen Hosen trugen sie
nichts am Leib, und ihre Oberkörper glänzten schweißnass im
Schein der Fackeln. Zuerst konnte sie sich keinen Reim auf
die Unterhaltung der Männer machen, erst als sie genauer
hinsah, erkannte sie eine junge Frau unter den Gefangenen.
Ihre kleinen Brüste hoben und senkten sich unübersehbar
unter den dreisten Blicken der Männer, und ihre dunklen
Augen hefteten sich flehentlich auf Jacquotte.
Sie wusste um die Sitte, Gefangene zu machen, die in der
Siedlung als Knechte ihre Zeit abdienten und nach Gutdünken
behandelt werden durften. Meist hielten sich besonders die
Stierjäger solche Knechte, denn das Jagen der großen Tiere
war eine zeitaufwendige und anstrengende Arbeit, die sie oft
über Tage vom Dorf fernhielt. Dennoch war es bereits einige
Zeit her, dass neue Gefangene in die Siedlung gebracht
worden waren, und die ehemaligen waren mittlerweile
Bestandteil der Bukanier-Gesellschaft geworden. Jacquotte
holte Luft. Das Bild der verängstigten Frau hatte sich in
ihrem Kopf festgebrannt, und sie war nicht bereit, das
armselige Geschöpf den spottenden Männern zu überlassen.
Bevor sie loslegen konnte, trat Jérôme dazwischen und zwang
sie mit seinem breiten Körper zurück.
»Genug«, herrschte er die Männer an und warf Jacquotte
einen kurzen Blick über die Schulter zu. »Der Rum vernebelt
euch die Sinne.«
Er schubste einen der Männer zur Seite, während er vor die
Gefangenen trat. »Die Regeln besagen, dass alles, was nicht
zu gleichen Teilen an die Brüder gegeben werden kann, an
einen einzigen Mann gehen muss. Und zwar an den, dem das
Glück hold ist.« Er zog seinen Säbel und ritzte dem Mann
neben sich leicht das Kinn. »Was heißt das, Boisbrûlé?«
»Dass wir um sie würfeln, Bruder«, jammerte dieser
kleinlaut und wischte sich das Blut weg.
»So sei es«, befahl Jérôme. »Holt die Würfel!«
Die Männer verzogen sich murrend. Nur Jérôme und Jacquotte
blieben zurück.
»Das wirst du nicht zulassen!« Sie hob herausfordernd ihr
Kinn. Jérôme stand breitbeinig vor ihr. Der Säbel lag ruhig
in seiner Hand, doch seine Körperspannung verriet, dass er
Gehorsam von ihr verlangte.
»Wage es nicht, mir zu befehlen.« Seine Worte kamen aus
einem finsteren Ort in seinem Inneren. Sie war erstaunt. Auf
diese Weise hatte er noch nie zu ihr gesprochen. Seine Zähne
waren leicht entblößt und er fixierte sie auf eine Art, die
ihr unheimlich war. Für einen kurzen Moment hielt sie seinem
Blick stand, bevor sie verschämt die Augen senkte. Jérôme
ging bedächtig an ihr vorbei und ließ die Klinge geschmeidig
in die rote Schärpe gleiten.
»Du solltest sie nicht glauben lassen, dass du dich auf
die Seite der Schwachen schlägst. Sie mögen dumm sein, aber
nicht dumm genug, um nicht beizeiten festzustellen, dass sie
mit dir dasselbe tun können wie mit dem Negerweib«, knurrte
er in ihrem Rücken.
Jacquotte wandte sich von den Gefangenen ab. Sie hatte
nicht den Mut, der Frau noch einmal in die Augen zu blicken,
und ihre demütigende Situation wie einen Spiegel vorgehalten
zu bekommen. Bedrückt kehrte sie an den Platz neben ihrem
Vater zurück und leerte ihren Becher Palmwein
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