Joli Rouge (German Edition)
geflohen und haben ein
neues Lager errichtet, etwa ein halbes Lieue südwestlich von
hier. Wo versteckt ihr euch?«
»Das kann ich nicht sagen.« Jacquotte zögerte. Sie freute
sich einerseits, Jérôme zu sehen, war andererseits aber
misstrauisch, weil sie die Gesetze der Männer zu wenig
kannte, um ihr Handeln vorhersehen zu können.
Jérôme nickte. »Versprich mir, dass du mit Manuel in die
Sicherheit der Siedlung zurückkehrst. Ich verbürge mich für
euren Schutz. Die Spanier sind derzeit mehr als launenhaft
und ich sehe es nicht gerne, wenn ihr auf euch allein
gestellt seid.«
»Sind wir das nicht bereits?«, fragte Jacquotte.
»Nur wenn du deinen Stolz über die Notwendigkeit einer
Gemeinschaft stellst!« Er machte einen Schritt auf sie zu,
und Jacquotte spannte ihre Muskeln.
ȃmile war mein Gefolgsbruder. Du brauchst mich nicht zu
fürchten, du hast mein Wort darauf!« Jérôme streckte ihr die
Hand entgegen.
Jacquotte sah sie argwöhnisch an. »Du erbst seine
Hinterlassenschaften. Gehöre ich nicht dazu?«
Er schmunzelte. »Ich ziehe es vor, dieser Forderung nicht
nachzukommen.«
»Dann versprich mir die gleichen Rechte wie den restlichen
Brüdern«, forderte sie und machte keine Anstalten, seine
Hand zu ergreifen.
Er lachte. »Verzeih, aber das steht nicht in meiner Macht.
Die Bruderschaft folgt ihren eigenen Regeln.«
»Die mich nicht einschließen.«
»Aus gutem Grund.«
»Nenne ihn mir.« Jacquotte stemmte die Hände in die
Hüften.
Jérôme schnalzte missbilligend mit der Zunge und zog die
Hand zurück. »Der Kodex der Küste ist nicht deine
Bestimmung. Hör auf, ihn zu hinterfragen!«
»Dann werde ich deinem Wunsch nicht nachkommen.« Sie
drückte sich an ihm vorbei. »Ich muss noch einige Dinge
erledigen, bevor ich mich wieder auf den Rückweg mache.«
Jacquotte spürte, dass er nach ihr griff und entzog sich
ihm flugs.
»Avast«, brüllte er zornig und benutzte damit den
nautischen Befehl zum sofortigen Innehalten.
Sie blieb in einiger Entfernung stehen, drehte sich um und
ahmte Jérômes tiefen Tonfall nach: »Wenn ihr mir eure Regeln
vorenthaltet, dann ziehe ich es vor, nach meinen eigenen zu
leben!«
Jérôme versuchte, sich zu sammeln. Er beklagte innerlich
den Tag, an dem Émile auf die unsinnige Idee gekommen war,
Anani zu retten und sie mit nach Tierra Grande zu bringen.
Seither war seine Welt aus den Fugen geraten. Frauen waren
unberechenbare Wesen! Sie vermochten einem das Gehirn zu
vernebeln und die Gedanken in ungewohnte Bahnen zu lenken.
Aufmerksam verfolgte er Jacquottes Rückzug. Sie vereinte all
die Merkmale der zwei Menschen in sich, die er am meisten
geliebt hatte, und für die er jederzeit sein Leben gegeben
hätte. Deshalb war er froh, sie gesund und wohlauf
anzutreffen. Als er von Émiles Tod gehört hatte, war er
sofort nach Tierra Grande geeilt, wo ihm die Männer
mitgeteilt hatten, dass Jacquotte und Manuel spurlos
verschwunden waren. Der Gedanke, dass er nicht nur Émile,
sondern auch Jacquotte verloren hatte, ließ ihn nicht mehr
schlafen.
Langsam folgte er Jacquottes Spuren. Wenn sie glaubte, sie
könnte ihn austricksen, dann war das reiner Irrglaube. Er
war schon länger auf dieser Welt und hatte sich in
Situationen behauptet, die sie sich in ihrer jugendlichen
Unschuld nicht vorstellen konnte. Fasziniert sah er, wie sie
eins wurde mit dem Unterholz des Waldes. Nur ihre Haare
leuchteten wie Signalfeuer in einem grünen Meer und
erleichterten Jérôme die Verfolgung. Wie war es Émile nur
gelungen, eine solche Sirene großzuziehen? Jérôme schnaubte.
Es fiel ihm schwer, es zuzugeben, doch sie weckte
ungewöhnliche Gefühle in ihm. Sie war zänkisch und unbeugsam
wie er selbst. Ein Umstand, der ihn besonders nach Émiles
Tod nachdenklich stimmte und den er gerne verdrängte.
Er konnte nicht sagen, ob Émile von seinen Gefühlen für
Anani gewusst hatte. Sie waren so lange Kameraden, dass es
normal erschien, dass der eine in Abwesenheit des anderen
bei dessen Frau lag. Anani ließ ihn jedes Mal bereitwillig
in ihr Lager. Was hätte er tun sollen? Seit er Frankreich
verlassen hatte, war der Anblick von Frauen so selten für
ihn geworden, dass er nicht einmal mehr von ihnen träumte.
Aber Anani war real. Gefolgsbrüder teilten alles, so stand
es geschrieben. Daher wehrte er sich nicht, wenn sie ihn des
Öfteren die harte Realität vergessen ließ. Bisweilen in den
einsamen Nächten, die ihn
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